EuGH, Urt. v. 06.06.2013 – C-536/11 – Donau Chemie

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Das Recht eines jeden auf Schadensersatz ermöglicht es für einen wirksamen Schutz gegen die nachteiligen Folgen eines Kartellrechtsverstoßes, vollständigen Ersatz von Schäden zu verlangen, der nicht nur den positiven Schaden, sondern auch den entgangenen Gewinn und die Zahlung von Zinsen umfasst.

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

6. Juni 2013 […]

„Wettbewerb — Akteneinsicht — Gerichtsverfahren betreffend Geldbußen wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV — Drittunternehmen, die eine Schadensersatzklage erheben wollen — Nationale Regelung, die die Akteneinsicht von der Zustimmung aller Parteien des Verfahrens abhängig macht — Effektivitätsgrundsatz“

In der Rechtssache C-536/11 […]

[1] Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz […] für Schadensersatzklagen wegen Verletzung des Wettbewerbsrechts der Union […].

[2 – 19] …

[20] Im Hinblick auf die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht dem Einzelnen Pflichten auferlegen, aber auch Rechte verleihen kann und dass solche Rechte nicht nur entstehen, wenn die Verträge dies ausdrücklich bestimmen, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die diese Verträge dem Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Union auferlegen.1

[23] In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass angesichts des Umstands, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen erzeugt und unmittelbar in deren Person Rechte entstehen lässt,2 die praktische Wirksamkeit des in dieser Bestimmung ausgesprochenen Verbots beeinträchtigt wäre, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist.3

[22] Nach ständiger Rechtsprechung ist es aber Sache der nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Unionsrecht anzuwenden haben, nicht nur die volle Wirkung dieses Rechts zu gewährleisten, sondern auch die Rechte zu schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen verleiht.4

[23] Zum einen erhöht nämlich das Recht eines jeden, Ersatz des Schadens zu verlangen, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten insbesondere unter Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV zugefügt worden ist, die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union, da es geeignet ist, von – oft verschleierten – Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können, und damit zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Union beiträgt.5

[24] Zum anderen bietet dieses Recht einen wirksamen Schutz gegen die nachteiligen Folgen, die ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV für den Einzelnen haben kann, da es den Personen, denen aufgrund dieses Verstoßes ein Schaden entstanden ist, ermöglicht, dessen vollständigen Ersatz zu verlangen, der nicht nur den positiven Schaden (damnum emergens), sondern auch den entgangenen Gewinn (lucrum cessans) und die Zahlung von Zinsen umfasst.6

[25] Mangels einer einschlägigen Regelung der Union obliegt es der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen.

[26] Was speziell die Verfahrensmodalitäten bei Schadensersatzklagen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln angeht, ist es Sache der Mitgliedstaaten, die nationalen Vorschriften zu erlassen und anzuwenden, die das Recht der sich durch ein Kartell für geschädigt haltenden Personen auf Zugang zu Dokumenten regeln, die nationale Verfahren hinsichtlich dieses Kartells betreffen.7

[27] Auch wenn Erlass und Anwendung dieser Vorschriften weiterhin in ihrer Zuständigkeit liegen, müssen die Mitgliedstaaten jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht beachten. Insbesondere dürfen die Vorschriften über die Rechtsbehelfe, die den Schutz der dem Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig sein als bei entsprechenden Rechtsbehelfen, die nur innerstaatliches Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), und sie dürfen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).8 Dabei dürfen diese Vorschriften speziell im Bereich des Wettbewerbsrechts nicht die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV beeinträchtigen.9

[28 – 51] …


Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wurden Nachweise im Fließtext in Fußnoten umgewandelt.

1 vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 1991, Francovich u. a., C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Randnr. 31, sowie vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung.

2 Urteil vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung.

3 Urteil Courage und Crehan, Randnr. 26.

4 vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, Slg. 1978, 629, Randnr. 16, vom 19. Juni 1990, Factortame u. a., C-213/89, Slg. 1990, I-2433, Randnr. 19, Courage und Crehan, Randnr. 25, sowie Manfredi u. a., Randnr. 89.

5 vgl. in diesem Sinne Urteil Courage und Crehan, Randnrn. 26 und 27, Manfredi u. a., Randnr. 91, und Pfleiderer, Randnr. 28.

6 vgl. in diesem Sinne Urteil Manfredi u. a., Randnr. 95.

7 vgl. in diesem Sinne Urteil Pfleiderer, Randnr. 23.

8 vgl. Urteile Courage und Crehan, Randnr. 29, und Manfredi u. a., Randnr. 62, sowie vom 30. Mai 2013, Jörös, C-397/11, Randnr. 29.

9 vgl. Urteil Pfleiderer, Randnr. 24, und vom 7. Dezember 2010, VEBIC, C-439/08, Slg. 2010, I-12471, Randnr. 57.

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