Fall 3 – LKW-Kartell (OLG Stuttgart)

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beruht auf OLG Stuttgart, 23.02.2023 – 2 U 77/19

Art. 101 I AEUV | § 1 GWB | § 33a I GWB | § 33h GWB

Schadensersatzanspruch | Vereinbarung | Abgestimmte Verhaltensweisen | Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung | Preiskoordinierung | Kausalität des Schadens | Verjährung

Sachverhalt

B produziert und vermarktet Lastkraftwagen. Nach den Feststellungen der Europäischen Kommission[1] koordinierte B zusammen mit weiteren LKW-Herstellern vom 17.01.1997 bis zum 18.01.2011 die Bruttolistenpreiserhöhungen und den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von Emissionstechnologien für mittelschwere und schwere LKW.

Im Januar leitete die Europäische Kommission Ermittlungen ein und führte anschließend Durchsuchungsmaßnahmen durch, die mit Beschluss vom 19.07.2016 abgeschlossen wurde. Die Rechtskraft trat am 19.09.2016 ein.

K, eine Stadt, hat bei B mittelschwere und schwere Fahrzeuge für die Freiwillige Feuerwehr bestellt und abgenommen hat, insbesondere

  1. am 15.04.1998 ein Mercedes-Benz 1224 AF 4×4 zum Preis von 117.085,76 DM brutto;
  2. am 07.06.2004 ein Mercedes-Benz 815 F Atego zum Preis von 31.228,36 Euro brutto;
  3. am 27.11.2009 ein Mercedes Benz 1329 AF 4×4 zum Preis von 64.414,70 Euro brutto; und
  4. am 06.10.2009 ein Mercedes Benz 1624 A 4×4 zum Preis von 89.250,00 Euro brutto.

K verlangt mit ihrer am 29.12.2017 eingegangenen und („demnächst“) am 12.01.2018 zugestellten (zulässigen) Klage unter Vorlage eines vorgerichtliches eingeholten Privatgutachtens Ersatz für Schäden in Höhe von insgesamt 28.473,34 Euro, die durch die behauptete Absprache von Bruttolistenpreisen und die abgestimmte Einführung von Euro-Abgasnormen eingetreten sein sollen.

B führt aus, dass zwar die Modelle Teil der Koordinierung gewesen sein, aber dies keinen Einfluss, auf den von der K entrichten Preis gehabt habe und erhebt die Einrede der Verjährung.

Hat die Klage der K Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitervermerk: Für die Falllösung ist die Geltung des heutigen, geltenden Rechts zu unterstellen. Die geltend gemachte Schadenshöhe ist als eingetretener und bewiesener Schaden zu betrachten. Es ist weiter zu unterstellen, dass K mit dem Beschluss Kenntnis von allen für die Anspruchsstellung relevanten Tatsachen hatte.

Gliederung

  1. Verstoß gegen eine kartellrechtliche Vorschrift
  1. Verstoß gegen Art. 101 I AEUV
  1. Rechtswidrigkeit des Verstoßes
  2. Aktivlegitimation
  3. Passivlegitimation & Verschulden
  4. Kausaler Schaden
  5. Keine Verjährung
  6. Verstoß gegen § 1 GWB
  1. Verstoß gegen § 1 GWB
  1. Rechtswidrigkeit des Verstoßes
  2. Aktivlegitimation
  3. Passivlegitimation & Verschulden
  4. Kausaler Schaden
  5. Keine Verjährung

Lösungsvorschlag

→ Hauptartikel:  KartellR-03. Anspruch auf Schadensersatz nach § 33a GWB

Die Klage der K hat Aussicht auf Erfolg, soweit der K gegen B ein Schadensersatzanspruch zusteht. Hierfür ist ein rechtswidriger Verstoß gegen eine kartellrechtliche Vorschrift oder eine Verfügung der Kartellbehörde, die Aktivlegitimation der K, die Passivlegitimation und das Verschulden der B, ein kausaler Schaden und kein Eintritt der Verjährung erforderlich.

I. Verstoß gegen eine kartellrechtliche Vorschrift

Vorliegend kommt ein Verstoß gegen Art. 101 I AUEV und gegen § 1 GWB in Betracht.

1. Verstoß gegen Art. 101 I AEUV

→ Hauptartikel:  KartellR-05. Verstoß gegen Art. 101 I AEUV (Kartellverbot)

Ein Verstoß gegen Art. 101 I AEUV erfordert zunächst die Anwendbarkeit des EU-Kartellrechts, die Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handelns, dass B Adressat des Kartellrechts ist, ein Koordinierungssachverhalt in Form einer Vereinbarung, Beschlusses oder einer abgestimmten Verhaltensweise vorliegt und eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt oder spürbar bewirkt und nicht freigestellt ist.

a. Anwendbarkeit des EU-Kartellrechts

→ Hauptartikel:  KartellR-01.B.I. Anwendungsbereich des EU-Kartellrechts

Der Anwendungsbereich des Art. 101 I AEUV ist eröffnet, wenn das Verhalten im Binnenmarkt durchgeführt wird oder eine qualifizierte Auswirkung hat.

Zwar enthält der Sachverhalt keine Angaben zur Markttätigkeit der B, da jedoch die in Deutschland an K verkaufen LKW von der Koordinierung erfasst waren, ist davon auszugehen, dass diese im Binnenmarkt durchgeführt wurde.

b. Zwischenstaatlichkeitsklausel

→ Hauptartikel:  KartellR-01.B.III. Verhältnis und Abgrenzung zwischen EU-Kartellrecht & nationalem Kartellrecht

Weiter muss das Verhalten geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Dies ist der Fall, wenn objektive Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lassen, dass das Verhalten den Warenverkehr unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell beeinflussen kann.

Da keine Anhaltspunkte ersichtlich sind, die darauf hindeuten, dass die Koordinierung sich nur auf das (Teil-) Gebiet eines Mitgliedsstaats beschränkte, ist davon auszugehen, dass von dieser auch andere Mitgliedsstaaten erfasst waren. Zwar ist aufgrund fehlender Marktanteile oder Umsätze ein Rückgriff auf die NAAT-Regel nicht möglich, die Tatsache, dass mehrere Lastkraftwagenhersteller hieran über einen Zeitraum von etwa 14 Jahren beteiligt waren, spricht dafür, dass der Warenverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten zumindest potenziell beeinträchtigt wurde – insbesondere, weil der Markt der Lastwagenhersteller grundsätzlich von großen Konzernen geprägt ist.

c. Adressatenstellung

→ Hauptartikel:  KartellR-01.C. Adressaten des Kartellrechts / kartellrechtlicher Unternehmensbegriff

Als Unternehmen ist B Adressat des Kartellrechts.

d. Koordinierungssachverhalt

→ Hauptartikel:  KartellR-01.D. Koordinierungssachverhalt

Ein Kartellverstoß kann in der Form einer Vereinbarung zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmens­vereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen vorliegen.

Nach den Feststellungen der Kommission koordinierte B zusammen mit weiteren LKW-Herstellern die Bruttolistenpreiserhöhungen sowie den Zeitplan und die Weitergabe der Einführung von Emissionstechnologien.

Hierbei handelt es sich entweder um Vereinbarungen oder um abgestimmte Verhaltensweisen – je nach genauer Ausgestaltung der Koordinierung.

Da sowohl bei einer Vereinbarung als auch bei einer abgestimmten Verhaltensweise ein Kartellverstoß vorliegen kann, ist eine weitere Abgrenzung nicht erforderlich. In der Koordinierung liegt auch kein autonomes Parallelverhalten.

e. Bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung

→ Hauptartikel:  KartellR-01.E. Wettbewerbsbeschränkung

Dieses Verhalten muss eine Wettbewerbsbeschränkung bewirken oder bezwecken. Sowohl die Koordinierung der Bruttolistenpreiserhöhungen als auch der Zeitplan der Einführung und Weitergabe der Einführung von Emissionstechnologien betrifft unmittelbar oder mittelbar den Preis der Produkte der beteiligten Unternehmen. Der Preis einer Ware ist neben anderen Eigenschaften wie der Verfügbarkeit oder der Qualität essenzieller Faktor des Wettbewerbs zwischen Unternehmen. Werden Preiserhöhungen koordiniert, wird der Wettbewerb um niedrigere Preise ausgeschaltet. Es handelt sich um ein Verhalten, dass bereits seiner Natur nach schädlich für den Wettbewerb ist und stellt daher eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung dar. Die Spürbarkeit muss nicht nachgewiesen werden.

f. Keine Freistellung

→ Hauptartikel:  KartellR-05.8. Keine Freistellung nach Art. 101 III AEUV

Anhaltspunkte für eine Freistellung sind nicht ersichtlich.

g. Zwischenergebnis

Es liegt ein Verstoß gegen Art. 101 I AEUV vor.[2]

2. Verstoß gegen § 1 GWB

In der Koordinierung liegt zudem ein Verstoß gegen § 1 GWB, der parallel zu Art. 101 I AEUV Anwendung findet (§ 22 I GWB). Eine Freistellung nach § 2 GWB oder § 2 I GWB i.V.m. § 3 GWB liegt nicht vor.

3. Zwischenergebnis

B hat gegen Art. 101 I AEUV und § 1 GWB verstoßen.

II. Rechtswidrigkeit des Verstoßes

Die Rechtswidrigkeit des Verstoßes ist indiziert. Anhaltspunkte dagegen sind nicht ersichtlich.

III. Aktivlegitimation

→ Hauptartikel:  KartellR-03.3. Aktivlegitimation

Aktivlegitimiert ist nach der „jedermann“-Formel des EuGH jeder, der einen Schaden erlitten hat, der dem Kartellrechtsverstoß zuzurechnen ist.[3]

Hierbei wird nach § 33a II 1 GWB widerleglich vermutet, dass ein Kartell einen Schaden verursacht. Zudem wird nach § 33a II 4 GWB widerleglich vermutet, dass Rechtsgeschäfte über Waren oder Dienstleistungen mit kartellbeteiligten Unternehmen, die sachlich, zeitlich und räumlich in den Bereich eines Kartells fallen, von diesem Kartell erfasst waren. Nach den Angaben der B waren die von der K erworbenen Modelle Teil der Koordinierung gewesen, sodass widerleglich vermutet wird, dass diese in den Bereich des Kartells fallen und einen Schaden verursachen. Allein die Aussage der B, das Kartell habe keinen Einfluss auf den von der K entrichteten Preis gehabt, kann dies nicht widerlegen.

Nachdem K einen Schaden erlitten hat, der dem Kartellrechtsverstoß zuzurechnen ist, ist sie aktivlegitimiert.

IV. Passivlegitimation & Verschulden

→ Hauptartikel:  KartellR-03.4. Passivlegitimation und Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit)

Passivlegitimiert ist das Unternehmen, durch dessen Verhalten der Schaden entstanden ist. Dies ist vorliegend B. Zudem müsste B vorsätzlich oder fahrlässig den Kartellverstoß begangen haben. Angesichts der Tragweite der Koordinierung und des Zeitraums über mehr als ein Jahrzehnt ist von einem vorsätzlichen Handelnd der B auszugehen.

V. Kausaler Schaden

Laut Sachverhalt ist der K ein Schaden in Höhe von insgesamt 28.473,34 Euro entstanden.

VI. Keine Verjährung

Dem Schadensersatzanspruch der K könnte die Verjährung entgegenstehen. Die Einrede der Verjährung hat B erhoben. Nach § 33h I GWB verjährt der Schadensersatzanspruch in fünf Jahren. Dies beginnt nach § 33h II mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, der Anspruchsberechtigte Kenntnis erlangt hat oder erlangen musste und der den Anspruch begründende Verstoß nach § 33 I GWB beendet worden ist. Da K jedoch erst mit Abschluss der Ermittlungen am 19.07.2016 Kenntnis von allen Umständen erlangte, begann die Verjährungsfrist am 01.01.2017 und endete nach Klageerhebung zum 02.01.2022. Angesichts der Klageeinreichung am 29.12.2017 und Zustellung am 12.01.2018 ist der Anspruch der K somit nicht nach § 33h I, II GWB verjährt.

Die Verjährung des Schadensersatzanspruchs ist nach § 33h VI 1 Nr. 1 GWB gehemmt, wenn die Europäische Kommission Maßnahmen im Hinblick auf eine Untersuchung eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV trifft. Dies ist vorliegend im Januar 2011 geschehen, sodass die Verjährung gehemmt wurde.

Nach § 33h VI 2 GWB endet die Hemmung ein Jahr nach der bestands- und rechtskräftigen Entscheidung. Die Rechtskraft des Beschlusses der Kommission trat am 19.09.2016 ein, sodass die Hemmung der Verjährung im September 2017 endete und die Verjährungsfrist wieder zu laufen begann bzw. erst zu laufen begann.

Nach § 33h III GWB verjähren Ansprüche ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von dem Zeitpunkt an, in dem der Anspruch entstanden ist und der Verstoß beendet wurde. Dem Sachverhalt nach dauerte der Verstoß bis zum 18.01.2011, sodass die Verjährungsfrist nach § 33h III GWB ebenfalls erst nach dem Ende der Hemmung begann und eine Verjährung nach § 33h III GWB erst zehn Jahre nach der Rechtskraft des Beschlusses, folglich nach der Zustellung der Klage eintrat.

Auch die 30-jährige Verjährung nach § 33 IV GWB tritt in Hinblick auf den „ersten“ innerhalb des Kartellzeitraums am 15.04.1998 erworbenen Mercedes-Benz 1224 AF 4×4 erst im April 2028 ein.

Der Schadensersatzanspruch ist nicht verjährt.

VII. Ergebnis

Da K gegen B nach § 33a I GWB ein Schadensersatzanspruch zusteht, hat die Klage Aussicht auf Erfolg.

Ergänzende Hinweise

[1] Beschluss der Europäischen Kommission vom 19.07.2016 – AT.38924: https://competition-cases.ec.europa.eu/cases/AT.39824 [13.12.2023] verhängte ein Bußgeld von rund einer Milliarde Euro.

[2] Die Europäische Kommission hat im Beschluss vom 19.07.2016 festgestellt: „Die Adressaten des Beschlusses waren an einer Absprache beteiligt und/oder haften für die Beteiligung an einer Absprache und haben mit dieser in den nachstehend angegebenen Zeiträumen gegen Artikel 101 AEUV verstoßen. […] Die Absprachen umfassten Vereinbarungen und/oder abgestimmte Verhaltensweisen zu Preisen und Bruttolistenpreiserhöhungen mit dem Ziel, die Bruttopreise im EWR zu koordinieren, sowie zum Zeitplan und zur Weitergabe der Kosten für die Einführung von Emissionstechnologien nach den Abgasnormen EURO 3 bis EURO 6. […] Die Zuwiderhandlung erstreckte sich über den gesamten EWR und bestand vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011“. Hierzu führt das OLG Stuttgart aus: Die Europäische Kommission hat das Verhalten der Kartellbeteiligten als Preiskoordinierungen eingeordnet, die in der praktizierten Weise zu den schädlichsten Einschränkungen des Wettbewerbs gehörten. […] Diese Feststellungen im Beschluss der Kommission sind für den vorliegenden Rechtsstreit als nachfolgendem Schadensersatzprozess gemäß § 33 Absatz 4 GWB 2005 bindend“. Entsprechend prüft es nicht, ob ein Verstoß gegen Art. 101 I AEUV oder § 1 GWB vorliegt.

[3] Hierzu führt das OLG Stuttgart aus: „Die praktische Wirksamkeit des gemeinschaftsrechtlichen Kartellverbotes erfordert, dass jedermann Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränkt oder verfälscht, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist […]. Nach diesen Grundsätzen ist Voraussetzung des haftungsbegründenden Tatbestands eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs, dass dem Anspruchsgegner ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten anzulasten ist, das – vermittelt durch den Abschluss von Umsatzgeschäften oder in anderer Weise – geeignet ist, einen Schaden des Anspruchstellers unmittelbar oder mittelbar zu begründen […]. Demnach ist die Klägerin anspruchsberechtigt, weil sie mit den Lastkraftwagen von der am Kartell beteiligten Beklagten Waren erworben hat, die Gegenstand des Austauschs über zukünftige Preislisten und Listenpreiserhöhungen sowie der weiteren festgestellten wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen und damit Gegenstand der Kartellabsprache waren“.

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