B. Materielle Erteilungs­voraus­setzungen eines Patents

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Patente werden nach § 1 I PatG und Art. 52 I EPÜ für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erteilt, sofern sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind. Die Patentfähigkeit einer Erfindung ist sowohl im Rahmen der Erteilung als auch im Rahmen von Einspruch- und Nichtigkeitsklagen zu beurteilen.

Inhaltsverzeichnis
  1. I. Erfindung (Art. 52 EPÜ, § 1 PatG)
  2. II. Ausnahmen der Patentfähigkeit (Art. 53 EPÜ, §§ 2, 2a PatG)
  3. III. Neuheit (Art. 54, 55 EPÜ, § 3 PatG)
  4. IV. Erfinderische Tätigkeit (Art. 56 EPÜ, § 4 PatG)
  5. V. Gewerbliche Anwendbarkeit (Art. 57 EPÜ, § 5 PatG)
  6. Nachweise

Die materiellen Erteilungsvoraussetzungen eines Patents nach §§ 1 ff. PatG und Art. 52 ff. EPÜ können nach folgendem Schema geprüft werden

  1. Erfindung (Art. 52 EPÜ, § 1 PatG)
    1. Lehre zum praktischen Handeln
    2. Technischer Charakter
    3. Realisierbarkeit
    4. Wiederholbarkeit
  2. Keine Ausnahmen der Patentfähigkeit (Art. 53 EPÜ, §§ 2, 2a PatG)
  3. Neuheit (Art. 54, 55 EPÜ, § 3 PatG)
  4. Erfinderische Tätigkeit (Art. 56 EPÜ, § 4 PatG)
  5. Gewerbliche Anwendbarkeit (Art. 57 EPÜ, § 5 PatG)

I. Erfindung (Art. 52 EPÜ, § 1 PatG)

Eine Erfindung ist jede Lehre zum praktischen Handeln, die realisierbar und wiederholbar ist und die Lösung einer technischen Aufgabe durch technische Mittel darstellt.[1]

1. Lehre zum praktischen Handeln

Die Lehre zum praktischen Handeln besteht aus einer Aufgabe (Problem) und deren Lösung,[2] die jeweils zu ermitteln sind. Die Lösung kann hierbei sowohl ein Erzeugnis (Erzeugnispatent) als auch ein Verfahren (Verfahrenspatent) darstellen. Es muss jedoch ein konkreter praktischer bzw. (zukünftig) nutzbringender Nutzen resultieren,[3] eine Idee ohne Umsetzung ist nicht patentfähig.[4]

Nicht mehr erforderlich ist dahingegen, dass die Erfindung einen praktischen Fortschritt mit sich bringt.

2. Technischer Charakter

In Abgrenzung zu anderen Rechten des Eigentums begründet nicht jede Lehre zum praktischen Handeln patentrechtlichen Schutz.

Dem Patentschutz zugänglich ist eine Lehre zum planmäßigen Handeln unter Einsatz beherrschbarer Naturkräfte zur Erreichung eines kausal übersehbaren Erfolges […].[5]

Dies ist insbesondere nach § 1 III PatG nicht der Fall für Entdeckungen sowie wissenschaftliche Theorien und mathematische Methoden, ästhetische Formschöpfungen, Pläne, Regeln und Verfahren für gedankliche Tätigkeiten, für Spiele oder für geschäftliche Tätigkeiten sowie Programme für Datenverarbeitungsanlagen und die Wiedergabe von Informationen. Dies gilt jedoch nach § 1 IV PatG nur, „insoweit […] für die genannten Gegenstände oder Tätigkeiten als solche Schutz begehrt wird“, sodass zwar die Erfindung oder Wiedergabe von Information selbst nicht patentfähig ist, ein Erzeugnis aber Verfahren, dass die Verwendung der Erfindung oder die Wiedergabe von Informationen ermöglicht, patentfähig sein kann.

a. Abgrenzung zu Entdeckungen (Art. 52 II lit. a EPÜ, § 1 III Nr. 1 PatG)

Entdeckungen, wissenschaftliche Theorien und mathematische Methoden sind dem Patentschutz nicht zugänglich. Wird diese jedoch planmäßige ausgenutzt, ist patentrechtlicher Schutz nicht ausgeschlossen.[6] Dies ist insbesondere problematisch für biologisches Material wie Naturstoffe und Bestandteile und Körpersubstanzen des menschlichen Körpers.

Nach § 1 II 1 PatG kann für Erfindungen, die als Erzeugnis ein biologisches Material oder dessen Herstellung, Bearbeitung oder Verwendung zum Gegenstand haben, patentrechtlichen Schutz erlangen. Für biologisches Material, welches in der Natur vorhanden ist (Naturstoffe), gilt dies nach § 1 II 2 PatG, wenn dieses „mit Hilfe eines technischen Verfahrens aus seiner natürlichen Umgebung isoliert oder hergestellt wird“.

Nach § 1a PatG ist die Patentfähigkeit von Bestandteilen des menschlichen Körpers mit Ausnahme von isolierten Bestandteilen ausgeschlossen.

b. Der technische Charakter computerimplementierter Erfindungen im Überblick

Computerimplementierte Erfindungen zeichnen sich da­durch aus, dass mindestens eines der Merkmale durch ein Computerprogramm realisiert wird,[7] sodass sowohl ein technischer als auch ein nicht-technischer Charakter vorliegt. Problematisch ist hierbei einerseits, ob ein technischer Charakter vorliegt und andererseits, ob eine erfinderische Tätigkeit gegeben ist.

Hierbei ist zwischen der Gesamtbetrachtungslehre und dem „two hurdle approach“ des EPA und der Rechtsprechung des BGH zu differenzieren.

Nach der Gesamtbetrachtungslehre des EPA sind alle Merkmale des Patentanspruchs zu beurteilen und ein technischer Charakter besteht, sobald ein Teilaspekt ein technisches Element aufweist – dies resultiert in der Regel bereits aus der Verwendung eines Computers. Der Ausschluss des Art. 52 II lit. c EPÜ greift dann, wenn darüber hinaus keine weiteren technischen Merkmale enthalten sind. Eine größere Bedeutung kommt der zweiten Hürde des „two hurdle approach“ im Rahmen der Frage, ob eine erfinderische Tätigkeit bejaht werden kann, zu.[8]

Nach der Rechtsprechung des BGH bestehen höhere Anforderungen. Der Ausschluss des § 1 III Nr. 3, IV PatG erfordert, dass neben der Verwendung des Computers als technisches Mittel, das Problem mittels des Computers gelöst wird, somit weitere Anweisungen vorhanden sind, die dieses Problem mit technischen Mitteln lösen. Daneben müssen die weiteren Voraussetzungen nach §§ 1 – 5 PatG, insbesondere eine erfinderische Tätigkeit vorliegen.[9]

Der BGH hat die zuvor vertretene Kerntheorie, welche allein auf den „Kern“ der Erfindung abstellt, aufgegeben und sich hierdurch der Gesamtbetrachtungslehre des EPA angenähert.

3. Realisierbarkeit

Die Erfindung muss realisierbar, somit ausführbar sein. Hierdurch werden sowohl nicht abgeschlossene Erfindungen, spekulative Erfindungen und unmögliche Erfindung ausgeschlossen. Dies kann insbesondere mangels ausreichender Offenbarung vorliegen, die als formaler Mangel der Patentanmeldung entgegensteht.

4. Wiederholbarkeit

Zuletzt muss eine Erfindung mit gleichbleibendem Erfolg wiederholbar sein und somit nicht auf Zufall beruhen.[10]

Abweichend hiervon kann für den Patentschutz eines Mikroorganismus eine vermehrbare Probe hinterlegt und freigegeben werden.[11]

II. Ausnahmen der Patentfähigkeit (Art. 53 EPÜ, §§ 2, 2a PatG)

Nach Art. 53 EPÜ und §§ 2, 2a PatG werden Patente nicht erteilt für

  1. Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde,
  2. Pflanzensorten und Tierrassen, und
  3. Verfahren zur therapeutischen Behandlung.

1. Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde (Art. 53 lit. a EPÜ, § 2 PatG)

Nicht patentfähig sind zunächst Patente, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde.

Art. 53 lit. a EPÜ | Ausnahmen von der Patentierbarkeit
Europäische Patente werden nicht erteilt für: Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde; ein solcher Verstoß kann nicht allein daraus hergeleitet werden, dass die Verwertung in allen oder einigen Vertragsstaaten durch Gesetz oder Verwaltungsvorschrift verboten ist;

Ob ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten vorliegt, ist anhand der tragenden Grundsätze der Rechtsordnung, insbesondere der Grundrechte zu beurteilen, nicht jedoch nur auf Grundlage eines gesetzlichen Verbotes festgestellt werden. Bei der Beurteilung ist insbesondere das Verständnis im maßgeblichen Geltungsbereich, der bestimmungsgemäße Gebrauch der Erfindung und unter Umständen auch die Entwicklung bzw. Entstehung der Erfindung bzw. der Umstände.

2. Patente für Pflanzensorten und Tierrassen (Art. 53 lit. b EPÜ, § 2a I Nr. 1 PatG)

Die Patentfähigkeit von Pflanzensorten, Tierrassen und biologische Verfahren zur Züchtigung von Pflanzen und Tieren, mit Ausnahme von mikrobiologischen Verfahren und Erzeugnisse sind vom Patentschutz ausgenommen.

Art. 53 lit. b EPÜ | Ausnahmen von der Patentierbarkeit 
Europäische Patente werden nicht erteilt für: Pflanzensorten oder Tierrassen sowie im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren. Dies gilt nicht für mikrobiologische Verfahren und die mithilfe dieser Verfahren gewonnenen Erzeugnisse;

Während Pflanzen nach dem Sortenschutzrecht, insbesondere dem SortSchG und der SortenschutzVO Schutz erlangen können, gibt es für Tierrassen kein eigenes Schutzrecht.

3. Verfahren zur therapeutischen Behandlung (Art. 53 lit. c EPÜ, § 2a I Nr. 2 PatG)

Art. 53 lit. c EPÜ und § 2a I Nr. 2 PatG dienen dem Zweck, die Therapiefreiheit von Ärzten zu schützen und schließt die Patentfähigkeit von Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung aus:

Art. 53 lit. c EPÜ | Ausnahmen von der Patentierbarkeit
Europäische Patente werden nicht erteilt für: Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers und Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden. Dies gilt nicht für Erzeugnisse, insbesondere Stoffe oder Stoffgemische, zur Anwendung in einem dieser Verfahren.

Zu berücksichtigen ist dahingegen, dass Erzeugnisse von Verfahren, insbesondere Medizinprodukte wie Arzneimittel und medizinische Geräte patentfähig sind.

III. Neuheit (Art. 54, 55 EPÜ, § 3 PatG)

Voraussetzung der Erteilung eines Patents ist die Neuheit der Erfindung. Nach § 3 I 1 PatG und Art. 54 I EPÜ gilt eine Erfindung als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört. Der Stand der Technik wird definiert in Art. 54 II EPÜ und

§ 3 I 2 PatG 
Der Stand der Technik umfaßt alle Kenntnisse, die vor dem für den Zeitrang der Anmeldung maßgeblichen Tag durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind.

Daher muss die Erfindung gegenüber allen technischen Lehren neu sein, die irgendwann, irgendwie und irgendwie vor dem für den Zeitrang der Anmeldung maßgeblichen Tag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, auch bezeichnet als absolut-formeller Neuheitsbegriff.

Hierbei ist zu differenzieren zwischen (1) dem für den Zeitrang der Anmeldung maßgeblichen Zeitpunkt und (2) dem Stand der Technik. In Ausnahmefällen kann (3) eine Neuheitsschonfrist bestehen. Darüber hinaus sind (4) Sonderregelungen für Arzneimittel zu berücksichtigen.

1. Der relevante Zeitpunkt – Anmeldetag und Prioritätszeitpunkte

Ausgangspunkt der Bestimmung des Standes der Technik ist der Tag, an dem die Anmeldung beim EPA oder DPMA eingeht.

Abweichend hiervon kann im Anwendungsbereich der PVÜ nach Art. 4 PVO die Priorität einer ausländischen Anmeldung in Anspruch genommen werden, auch bezeichnet als äußere Priorität.

Art. 4 PVÜ
A.1. Wer in einem der Verbandsländer die Anmeldung für ein Erfindungspatent […] vorschriftsmässig hinterlegt hat, […] geniesst für die Hinterlegung in den anderen Ländern während der unten bestimmten Fristen ein Prioritätsrecht. C.1. Die oben erwähnten Prioritätsfristen betragen zwölf Monate für die Erfindungspatente […]. C.2. Diese Fristen laufen vom Zeitpunkt der Hinterlegung der ersten Anmeldung an; der Tag der Hinterlegung wird nicht eingerechnet […]

Hierdurch steht eine neuheitsschädliche Veröffentlichung der Patentfähigkeit nicht entgegen, wenn sie zwar vor der Anmeldung beim EPA oder DPMA, jedoch nach der Anmeldung in einem der PVÜ-Staaten erscheint. Andernfalls könnte insbesondere die Anmeldung der Marke in dem PVÜ-Staat der Anmeldung beim EPA oder DPMA entgegenstehen. Darüber hinaus sind die Voraussetzungen des § 41 PatG und Art. 87 EPÜ zu berücksichtigen.

Daneben kann nach § 40 PatG innerhalb von 12 Monaten dieselbe Erfindung unter Inanspruchnahme der ursprünglichen Priorität angemeldet werden, sog. innere Priorität.

Da allein der Tag und nicht der spezifische Zeitpunkt der Anmeldung ausschlaggebend ist, können sich unter Berücksichtigung von Zeitzonen verschiedene Referenzpunkte für die Beurteilung von neuheitsschädlichen Veröffentlichungen. In Betracht kommt hierbei

  1. die Zeitzone des Amtes, wo die Anmeldung eingereicht wird,
  2. die Zeitzone des Ortes, an dem eine (potenziell) neuheitsschädliche Veröffentlichung zugänglich gemacht wurde, oder
  3. die Abrufbarkeit in irgendeiner Zeitzone.

Gegen letztere Ansicht entschied sich der BGH, da diese

den Referenzrahmen von der Zeitzone, an der die Veröffentlichungshandlung erfolgt ist, auf alle Zeitzonen [erweitert], ohne dass ein Bezug zur Veröffentlichungshandlung und damit ein eine solche Erweiterung rechtfertigender Grund vorliegt. Zudem besteht auch bei diesem Ansatz der Nachteil, dass es erforderlich werden kann, den stundengenauen Zeitpunkt der Veröffentlichung festzustellen, da nur nach dessen Feststellung bestimmt werden kann, ob die Veröffentlichung in der den Referenzmaßstab bildenden Zeitzone des Patentamtes der Patent- oder Prioritätsanmeldung bereits vor oder erst an dem Tag der Anmeldung veröffentlicht worden ist.[12]

2. Der Stand der Technik

Der Stand der Technik erfasst alle Kenntnisse, die vor dem maßgeblichen Anmeldetag bzw. Prioritätstag der Öffentlichkeit zugänglichgemacht wurden.

Im Rahmen einer Klausur werden in der Regel bestimmte Veröffentlichungen dargestellt bzw. ergeben sich aus dem Sachverhalt. Sind diese vor dem Anmelde- bzw. Prioritätstag veröffentlicht worden, ist (a) festzustellen, ob diese zugänglichgemacht, ob dies (b) gegenüber der Öffentlichkeit geschah und (c) welcher Stand der Technik sich hieraus im Vergleich zur Erfindung ergibt.

Zum Stand der Technik gehören nach § 3 II PatG und Art. 54 III PatG auch der Inhalt (bestimmter) Patentanmeldungen, die vor dem Anmelde- oder Prioritätsdatum angemeldet, aber erst anschließend an die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Dies gilt insbesondere für Unterlagen eines Patentanmeldeverfahrens, die der Akteneinsicht unterliegen.[13]

a. Das Zugänglichmachen einer Kenntnis

Nach § 3 I 2 PatG und Art. 54 II EPÜ umfasst der Stand der Technik alle Kenntnisse die durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise (öffentlich) zugänglich gemacht worden sind. Entsprechend ist ausreichend, dass es objektiv möglich ist, diese Kenntnis zu erlangen.

b. Das Zugänglichmachen an die Öffentlichkeit

Eine Kenntnis ist nach der Rechtsprechung des BGH öffentlich, wenn ein nicht bestimmter Personenkreis in der Lage war, Kenntnis vom Inhalt zu nehmen. Dahingegen kommt es weder darauf an, ob der Inhalt tatsächlich bekannt geworden ist oder wie groß dieser Personenkreis ist.[14]

c. Der Stand der Technik im Vergleich zur Erfindung

Aus dem Stand der Technik muss die Erfindung für einen Fachmann unmittelbar und eindeutig offenbart sein. Ob dies der Fall ist, ist im Vergleich mit den einzelnen Veröffentlichungen (Einzelvergleich) zu beurteilen, nicht jedoch durch die Kombination verschiedener Veröffentlichungen, somit ist keine Mosaikbetrachtung vorzunehmen. Nicht erforderlich ist dahingegen, dass die neuheitsschädliche Offenbarung den Zweck bzw. die Eignung zum Zweck der Erfindung aufweist oder (bereits) den in Deutschland geltenden technischen Normen entspricht.[15]

3. Die Neuheitsschonfrist nach § 3 V PatG und Art. 55 EPÜ

Ausnahmsweise kann eine Offenbarung der Erfindung außer Betracht bleiben, wenn sie nicht früher als sechs Monate vor Einreichung erfolgt ist und (a) auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers zurückzuführen ist, oder auf einer amtlich anerkannten Ausstellung i.S.d. Übereinkommens über internationale Ausstellungen.

4. Die Neuheit von Arzneimitteln und der Schutz der ersten und zweiten medizinischen Indikation

Besonderheit gelten für die Neuheit von Arzneimittel, wobei zwischen der Erfindung eines neuen Stoffs, dessen ersten medizinischen Indikation und zweiten bzw. weiteren medizinischen Indikation zu unterschieden ist.

Für die Erfindung eines bisher unbekannten und somit neuen Stoffes kann – sofern die weiteren Voraussetzungen vorliegen – ein Stoffpatent erteilt werden. Die Nutzung dieses Stoffes für ein Verfahren, somit dessen erste medizinische Verwendung bzw. Indikation begründet nach § 3 III PatG und Art. 54 IV EPÜ ein zweckgebundenes Erzeugnispatent, dessen Schutz sich auf jede medizinische Verwendung des Stoffes erstreckt. Die zweite Verwendung des Stoffes, somit die zweite medizinische Indikation des Stoffes können den Schutz als spezifisches zweckgebundenes Erzeugnispatent nach § 3 IV PatG und Art. 54 V EPÜ erlangen.

IV. Erfinderische Tätigkeit (Art. 56 EPÜ, § 4 PatG)

Nur Erfindungen, die auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen, sind patentfähig. Wann eine Erfindung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, wird definiert in § 4 PatG und

Art. 56 EPÜ | Erfinderische Tätigkeit
1Eine Erfindung gilt als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. 2Gehören zum Stand der Technik auch Unterlagen im Sinn des Artikels 54 Absatz 3, so werden diese bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht in Betracht gezogen.

Im Rahmen der Beurteilung, ob eine Erfindung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, sind drei Aspekte zu berücksichtigen: Die Lehre des Patents, somit die Erfindung, der Stand der Technik und die Kenntnisse des Fachmanns. Der BGH und das EPA prüfen dies mit unterschiedlichen Ansätzen, Besonderheiten gelten wiederum für computerimplementierte Erfindungen.

Aufgabe- und Lösungsansatz des EPA

Prüfungsschema nach dem BGH

1. Die Bestimmung des Durchschnittsfachmanns

Die Bestimmung des Durchschnittsfachmanns ist Grundlage der Beurteilung einer erfinderischen Tätigkeit. Zunächst ist jedoch anhand des betroffenen Gebiets der Technik derjenige Fachmann zu bestimmen, dem üblicherweise die Lösung der mit der Lehre verfolgten Aufgabe anvertraut wird. Im Einzelfall kann diese auch eine Grup­pe von Fachmännern unterschiedlicher Schwerpunkte sein. Hierauf basierend besitzt der Durchschnittsfachmann durchschnittliches Fachwissen und durchschnittliche Fähigkeiten, setzt diese jedoch nicht erfinderisch ein.

2. Der nächstliegende Stand der Technik

Der Stand der Technik ist Ausgangspunkt und Beurteilungsgrundlage der Erfindung und erfasst grundsätzlich alle Kenntnisse, die öffentlich zugänglich gemacht worden sind. Abweichend zur Beurteilung der Neuheit der Erfindung sind jedoch im Rahmen der Beurteilung des Vorliegens einer erfinderischen Tätigkeit die Anmeldung von Patenten mit älterem Zeitrang nicht zu berücksichtigen.

3. Naheliegende Lösungen für den Durchschnittsfachmann

Schließlich ist zu beurteilen, ob die Lehre der Erfindung für den Durchschnittsfachmann naheliegend war. Hierfür müsste der Durchschnittsfachmann zunächst hierfür einen Anlass gehabt haben und – ohne eine eigene erfinderische Tätigkeit – auf die Erfindung gekommen sein.[16] Hierfür sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigten – auch kombiniert (Mosaikbetrachtung).

Die Veranlassung des Durchschnittsfachmanns eine Lösung zu suchen, kann insbesondere fehlen, wenn

  1. eine neue Aufgabe gestellt wird, oder
  2. bisher eine (Fehl-)Vorstellung existiert, „die die einschlägigen Fachleute daran gehindert hat, in Richtung auf die geschützte Lehre zu arbeiten oder auch nur Versuche in dieser Richtung anzustellen“,[17]

Als Indizien dafür, dass eine Lösung dem Durchschnittsfachmann naheliegt oder nicht kann insbesondere berücksichtigt werden

  1. wie komplex bzw. schwierig die Lösung ist,
  2. welchen technischen Fortschritt die Lösung im Vergleich zur vorherrschenden Praxis bildet,
  3. welchen wirtschaftlichen Erfolg bzw. Erfolgsaussichten die Erfindung hat, oder
  4. ob eine Lösung auf neue oder andere Gebiete übertragen wird.[18]

4. Erfinderische Tätigkeit computerimplementierter Erfindungen nach dem „COMVIK-Ansatz“ des EPA und nach der Rechtsprechung des BGH im Überblick

Besonderheiten gelten (erneut) für computerimplementierte Erfindungen. Auch in Hinblick darauf, ob die Erfindung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, divergiert die Rechtsprechung des EPA und des BGH.

Nach der Rechtsprechung des EPA ist das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit nach dem sog. COMVIK-Ansatz zu beurteilen. Demnach sind

  1. die Unterschiede zum Stand der Technik mit dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz zu ermitteln,
  2. die Unterschiede zum Stand der Technik in Hinblick auf ihren technischen Charakter zu untersuchen und
  3. abzuwägen, ob diese eine erfinderische Tätigkeit begründen.[19]

Nach der Rechtsprechung des BGH sind stattdessen im Rahmen der Prüfung der Erfindung auf eine erfinderische Tätigkeit nur diejenigen Merkmale zu untersuchen, die die Lösung des technischen Problems mit technischen Mitteln bestimmen oder zumindest beeinflussen.[20]

V. Gewerbliche Anwendbarkeit (Art. 57 EPÜ, § 5 PatG)

Zuletzt muss die Erfindung in irgendeiner Art und Weise gewerblich anwendbar sein. Hieran fehlt es nur, wenn der Erfindung jede Nützlichkeit fehlt oder für eine Gen­sequenz entgegen § 1a III PatG keine Funktion angegeben worden ist.

Nachweise

[1] Vgl. Ann, PatenR, 8. Auflage 2022, § 11 Rn. 1 ff.

[2] BeckOK PatR/Einsele, 30. Ed. 15.10.2023, PatG § 1 Rn. 29.

[3] Vgl. BGH GRUR 2005, 749 (752, unter B.IV.1) – Aufzeichnungsträger m.w.N.

[4] Vgl. BPatG GRUR 2004, 850 (851, unter II.2) – Kapazitätsberechnung.

[5] BGH GRUR 1969, 672 – Rote Taube; vgl. auch EPA GRUR Int 2011, 266 (273 f., unter 6.4.2.1) – Broccoli/PLANT BIOSCIENCE.

[6] Vgl. BGH GRUR 1969, 672 (673, unter II.A.3) – Rote Taube.

[7] EPA, Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, Juli 2022, S. 18.

[8] EPA, Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, Juli 2022, S. 21.

[9] Vgl. BGH GRUR 2011, 610 (612, Rn. 20 ff.) – Webseitenanzeige.

[10] BGH GRUR 1969, 672 (671, unter II.B) – Rote Taube; bestätigt durch BGH GRUR 1987, 231 (unter II.3.a) – Tollwutvirus.

[11] BGH GRUR 1987, 231 (unter II.3.a) – Tollwutvirus abweichend zur vorherigen Rechtsprechung.

[12] BGH GRUR 2019, 271 (279, Rn 94) – Drahtloses Kommunikationsnetz.

[13] BGH GRUR 2023, 325 – Gesperre.

[14] BGH GRUR 2022, 1200 (1206 f., Rn. 83) – Initialisierungsverfahren m.w.N.

[15] BGH GRUR 2023, 246 (249, Rn. 62, 64) – Verbindungsleitung.

[16] Zur Veranlassung z.B. BGH GRUR 2010, 407 (409, Rn. 17) – einteilige Öse.

[17] BGH GRUR 1996, 857 (860, unter III.2.c) – Rauchgasklappe.

[18] Vgl. ausführlich BeckOK PatR/Einsele, 30. Ed. 15.10.2023, PatG § 4 Rn. 49 ff.

[19] EPA, Entscheidung v. 26.09.2002 – T 0641/00 – Two identities/COMVIK.

[20] BGH GRUR 2011, 125 – Wiedergabe topografischer Informationen.

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