Fall 1 – Scheibenbremse II (BGH GRUR 2023, 47)

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beruht auf BGH, Urt. v. 08.11.2022 – X ZR 10/20

§ 9 2 Nr. 1 PatG | § 10 PatG | § 139 I 1 PatG

Unterlassungsanspruch | Schutzbereich eines Patentes | mittelbare Patentverletzung | bestimmungsgemäßer Gebrauch & Abgrenzung zur Neuherstellung | Erschöpfung

Sachverhalt

K ist Inhaberin eines Patentes für eine Scheibenbremse für insbesondere Kraftfahrzeuge. Die vorliegend relevanten Patentansprüche 1, 12 und 16 haben durch ein in der Berufungsinstanz bestätigtes Urteil des BPatG[1] folgende Fassung erhalten.

  1. Scheibenbremse mit einem gegenüber einem Achskörper (1) fest angeordneten Bremsträger (3) mit daran angeordneten Aufnahmeelementen (21) für die Befestigung und schwimmende Lagerung eines Bremssattels, wobei der Bremsträger (3) einen Belagschacht (10) zur Aufnahme eines gegen eine Bremsscheibe der Scheibenbremse anliegenden Bremspads aufweist und jeder weitere Bremspad in einer Aufnahme des Bremssattels angeordnet ist, wobei an dem Belagschacht (10) Führungsflächen (11, 12) zur radialen und tangentialen Führung des Bremspads angeordnet sind, und wobei der Bremsträger (3) direkt an dem Achskörper (1) angeordnet ist und sich im Wesentlichen quer hierzu erstreckt, dadurch gekennzeichnet, dass der Bremsträger (3) als eine ebene, flache Stahlplatte, ausgebildet ist, und dass zur Austauschbarkeit der an dem Belagschacht (10) angeordneten Führungsflächen (11, 12) mindestens ein innen an dem Belagschacht (10) angeordnetes Verschleißblech (40, 40a) vorgesehen ist, an dem eine radiale (11) und eine tangentiale (12) Führungsfläche für den Bremspad ausgebildet ist.
  1. Scheibenbremse nach einem der vorangehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass der Bremsträger (3; 3a, 3b) mit dem Achskörper (1) verschweißt ist.
  1. Scheibenbremse nach Anspruch 1, gekennzeichnet durch an dem Verschleißblech (40, 40a) angeformte Mittel zum Fixieren des Verschleißblechs an dem Belagschacht (10), in Gestalt von sich bis über die Flachseiten (25, 26) des Bremsträgers (3) erstreckende Abkantungen.

Während Scheibenbremsen mit ähnlichen Merkmalen im Stand der Technik bekannt waren, betrifft das Klagepatent das technische Problem, eine Scheibenbremse bereitzustellen, die möglichst einfach aufgebaut und möglichst leicht ist sowie möglichst einfach montiert werden kann. Hierbei kommt dem Verschleißblech, einer flachen und ebenen Stahlplatte, eine besondere Bedeutung zu, die im Verschleißfall statt des gesamten Bremsträgers ausgetauscht wird.

B vertreibt Bremsbelegsätze in der Bundesrepublik, die auch als Ersatzteile für von der K hergestellte Scheibenbremsenmodelle geeignet sind. Zum mitgelieferten Einbauzubehör gehören auch zwei Stahlplatten, die Verschleißbleche des Klagepatents ersetzen können.

Hierin sieht K eine Verletzung ihres Patents und erhebt Klage auf Unterlassung des Vertriebs solcher Stahlbleche.

Hat die (zulässige) Klage Aussicht auf Erfolg?

Gliederung

  1. Bestand des Klagepatents
  2. Aktivlegitimation (§ 139 I 1 PatG)
  3. Eingriff in den Schutzbereich des Patents
    1. Betroffenheit des Schutzbereichs des Patents
    2. Verletzung des Schutzbereichs
  4. Rechtswidrigkeit der Patentverletzung
  5. Schranken und Einwendungen
  6. Kein Ausschluss wegen Unverhältnismäßigkeit
  7. Wiederholungsgefahr
  8. Passivlegitimation

Lösungsvorschlag

→ Hauptartikel:  IP-02.C. Anspruch auf Unterlassung nach § 139 I 1 PatG und § 139 I 2 PatG

Die Klage der K hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie gegen B einen Anspruch auf Unterlassung nach §§ 139 I, § 10 I PatG hat. Hierfür ist erforderlich, dass das Klagepatent besteht, K aktivlegitimiert ist, ein rechtwidriger Eingriff in den Schutzbereich des Patents vorliegt, dem weder Schranken, Einwendungen noch die Unverhältnismäßigkeit entgegenstehen und Wiederholungsgefahr sowie die Passivlegitimation der B bestehen.

1. Bestand des Klagepatents

Das Patent der K hat durch ein in der Berufungsinstanz bestätigtes Urteil die im Sachverhalt wiedergegebene Fassung. Es ist davon auszugehen, dass es erteilt und veröffentlicht wurde und weder die Schutzfrist abgelaufen noch das Patent erloschen ist.

2. Aktivlegitimation der K

Als Patentinhaberin ist K aktivlegitimiert.

3. Eingriff in den Schutzbereich des Patents

Erforderlich ist ein Eingriff in den Schutzbereich des Patents. Hierfür ist zunächst der Schutzbereich zu bestimmen und anschließend eine Verletzung zu untersuchen.

a. Betroffenheit des Schutzbereiches des Patents

→ Hauptartikel:  IP-01.C.I. Die Betroffenheit des Schutzbereichs eines Patents

Die Betroffenheit des Schutzbereichs eines Patents kann in drei Schritten ermittelt werden. Zunächst ist das zugrundeliegende technische Problem und dessen Lösung festzustellen, dann die Merkmale des Patentanspruchs aufzugliedern und anschließend auszulegen.

aa. Ermittlung des technischen Problems

Das Patent der K betrifft das technische Problem, eine Scheibenbremse bereitzustellen, die möglichst einfach aufgebaut und möglich leicht ist sowie möglichst einfach montiert werden kann. Dieses technische Problem soll durch eine Stahlplatte gelöst werden, das im Verschleißfall statt des gesamten Bremsträgers ausgetauscht wird.

bb. Merkmale des Patentanspruchs

Die patentierte Scheibenbremse zeichnet sich dadurch aus,

dass der Bremsträger (3) als eine ebene, flache Stahlplatte, ausgebildet ist,

und dass zur Austauschbarkeit der an dem Belagschacht (10) angeordneten Führungsflächen (11, 12) mindestens ein innen an dem Belagschacht (10) angeordnetes Verschleißblech (40, 40a) vorgesehen ist,

an dem eine radiale (11) und eine tangentiale (12) Führungsfläche für den Bremspad ausgebildet ist.

cc. Auslegung des Patents

Da die Beschreibung eines Patents nicht jede denkbare Ausführungsform beschreiben kann, ist die Auslegung des Patents stets erforderlich. Aus der Sicht eines Durchschnittsfachmanns umfasst das Patent eine Scheibenbremse, die sich dadurch auszeichnet, dass im Verschleißfall statt des gesamten Bremsträgers nur das Verschleißblech ausgetauscht werden muss.

In dem Anbieten der Stahlplatten durch B könnte eine wortsinngemäße Ausführung des Patents liegen, aus der die Betroffenheit des Schutzbereichs des Patents resultieren würde. Die wortsinngemäße Ausführung eines Patents erfordert, dass aus der Sicht eines Durchschnittsfachmanns alle Merkmale des Patentanspruchs verwirklicht sind. Die Stahlplatten weisen dieselben Eigenschaften wie die im Patentanspruch erwähnten Verschleißbleche auf und sollen als Ersatzteil auch dieselbe Funktion erfüllen.

Da diese Funktion als Kennzeichen des Hauptanspruchs ausdrücklich erwähnt ist und essenzieller Bestandteil der patentierten Lösung ist, liegt durch das Anbieten der Stahlplatten auch dann eine Betroffenheit des Schutzbereichs durch wortsinngemäße Ausführung des Patents vor, wenn nicht die gesamte Scheibenbremse angeboten wird.[2]

b. Verletzung des Schutzbereichs

→ Hauptartikel:  IP-01.C.II.2. Mittelbare Patentverletzung nach § 10 PatG

Diese wortsinngemäße Ausführung des Patents müsste eine Patentverletzung darstellen. Da nicht die Scheibenbremse selbst, somit nicht ein Erzeugnis, das Gegenstand des Patents ist, hergestellt bzw. angeboten wird, scheidet eine unmittelbare Patentverletzung nach § 9 2 Nr. 1 PatG aus. In Betracht kommt jedoch eine mittelbare Patentverletzung nach § 10 I PatG.

Hierfür ist erforderlich, dass (aa) ein Mittel, das sich auf ein wesentliches Element der Erfindung bezieht, (bb) innerhalb des Geltungsbereichs des Patentgesetzes (cc) einem Nichtberechtigten angeboten oder geliefert wird, sofern (ee) B weiß oder es offensichtlich ist, dass dieses Mittel dazu geeignet oder bestimmt ist, für die Benutzung der Erfindung verwendet zu werden.

aa. Anbieten oder Liefern eines Mittels, das sich auf ein wesentliches Element der Erfindung bezieht

Ein Mittel bezieht sich dann auf ein wesentliches Element der Erfindung, wenn es geeignet ist, mit einem oder mehreren Merkmalen des Patentanspruchs bei der Verwirklichung des geschützten Erfindungsgedankens funktional zusammenzuwirken. Da die Verschleißbleche gerade der Lösung des technischen Problems dienen, verwirklichen sie den geschützten Erfindungsgedanken und stellen ein Mittel dar, das sich auf ein wesentliches Element der Erfindung bezieht. B vertreibt Stahlplatten, die genau dies verwirklichen, sodass ein Anbieten und auch ein Liefern dieser vorliegt.[3]

bb. Innerhalb des Geltungsbereichs des Patentgesetzes

B vertreibt die Ersatzteile in der Bundesrepublik und somit innerhalb des Geltungsbereichs des PatG.

cc. An Nichtberechtigte

→ Hauptartikel zur Erschöpfung:  IP-01.C.IV.4. Die Erschöpfung von Patenten

B müsste die Stahlplatten an Nichtberechtigte anbieten. Hierbei handelt es sich um alle Personen, denen der Patentinhaber die Benutzung der Erfindung nicht erlaubt hat oder denen kein Recht zur Benutzung zusteht. § 10 III PatG erweitert den erfassten Personenkreis auf Personen, die die in § 11 Nr. 1 bis 3 PatG genannten Handlungen vornehmen.

Da B Ersatzteile für die patentierte Scheibenbremse anbietet, ist davon auszugehen, dass alle Personen, denen sie die Stahlplatten anbietet, eine solche Scheibenbremse besitzen und unter Berücksichtigung der Erschöpfung möglicherweise keine Nichtberechtigten darstellen.[4]

Die Erschöpfung bewirkt, dass in Hinblick auf ein konkretes Erzeugnis, dass mit der Zustimmung des Patentinhabers innerhalb der EU bzw. der EWR in den Verkehr gebracht wird, keine Ansprüche des Patentinhabers mehr bestehen und der rechtmäßige Erwerber diese bestimmungsgemäß gebrauchen, an Dritte veräußern oder zu diesem Zweck Dritten anbieten kann. Da die einzige sinnvolle Verwendung der Ersatzteile die Verwendung mit der patentierten Scheibenbremse ist, kann davon ausgegangen werden, dass diese innerhalb der EU bzw. der EWR in Verkehr gebracht wurden und hierfür auch die Zustimmung des Patentinhabers bestand. Eine Erschöpfung liegt somit grundsätzlich vor.

Fraglich ist jedoch, ob der Ersatz der Verschleißbleche durch die Stahlplatten der B einen bestimmungsgemäßen Gebrauch darstellt oder eine nicht von der Erschöpfung erfasste, patentverletzende Neuherstellung vorliegt. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, welche „Rolle“ die jeweiligen Teile der Erfindung zur Lösung des technischen Problems spielen, welche Interessen sich gegenüberstehen und wie die Verkehrsauffassung dies beurteilt.[5]

Hierbei kann festgestellt werden, dass die besondere Wirkung und die Vorteile der Scheibenbremse durch die Verwendung eines einfach austauschbaren Verschleißbleches verwirklicht werden. Statt des gesamten Bremsträgers muss lediglich das Verschleißblech ausgetauscht werden. Aus wirtschaftlicher Sicht reduziert sich entsprechend die Verwertung des Patents auf den Erstverkauf der Scheibenbremse als Ganzes und anschließend auf die Verschleißbleche – statt des gesamten Bremsträgers. Andererseits besteht der gesamte „Zwecke“ der Verschleißbleche darin zu verschleißen. Während die Scheibenbremse so konstruiert ist, dass vor allem die Verschleißbleche abgenutzt werden, kommt den Stahlplatten selbst nur diese Funktion vor. Sie sind von vornherein darauf ausgelegt, abgenutzt und ersetzt zu werden. Entsprechend ist der bestimmungsgemäße Gebrauch dieser auch ersetzt zu werden, sodass der Ersatz mit einem Stahlblech der B keine Neuherstellung der Bremse, sondern der bestimmungsgemäße Gebrauch dieser ist.

Entsprechend liegt eine Erschöpfung vor und B liefert an Berechtigte i.S.d. § 10 I PatG.[6]

dd. Zwischenergebnis

Eine mittelbare Patentverletzung liegt mangels Angebots und Lieferung an Nichtberechtigte nicht vor.

c. Zwischenergebnis

Durch das Angebot und die Lieferung der Stahlplatten ist zwar der Schutzbereich des Patents betroffen, es liegt jedoch kein Eingriff und keine Verletzung des Patents vor.

4. Ergebnis

Mangels Patentverletzung besteht kein Unterlassungsanspruch der K.

Ergänzende Hinweise

[1] BPatG, Urt. v. 25.10.2018 – 7 Ni 12/17 (EP) bestätigt durch BGH GRUR 2021, 701 – Scheibenbremse I.

[2] Im Ausgangsfall wies die Stahlplatte geringfügige Erhebungen auf, die nicht der Lagerung des Bremssattels oder ähnlichen Zwecken dienten, sodass der BGH sich zunächst damit auseinandersetzte, ob dennoch eine flache und ebene Stahlplatte im Sinne des Patentanspruchs vorliegt.

[3] Hierzu führt der BGH aus: „Zutreffend hat das Berufungsgericht den auch in der Beschreibung des Klagepatents […] hervorgehobenen Vorteil, dass im Verschleißfall nicht der gesamte Bremsträger ausgetauscht werden muss, sondern nur das Verschleißblech, als Beitrag zur Verwirklichung des geschützten Erfindungsgedankens angesehen. […] Die genannte Ausgestaltung mag, wie die Revision im Ansatz zutreffend geltend macht, den Nachteil haben, dass die Bremse insgesamt mehr Bauteile umfasst und ein Austausch von Verschleißteilen insgesamt öfter erforderlich ist als bei einer Ausgestaltung ohne Verschleißbleche. Diesem Nachteil steht aber der ebenfalls in der Beschreibung geschilderte Vorteil gegenüber, dass der Austausch der Verschleißbleche zusammen mit ohnehin regelmäßig anfallenden Wartungsarbeiten erfolgen kann, zum Beispiel bei jedem dritten Wechsel der Bremspads […]. Jedenfalls darin liegt ein wesentlicher Beitrag zur Verwirklichung der geschützten Erfindung.

[4] Der BGH ordnet die Erschöpfung nicht der Prüfung ein, ob es sich um „Nichtberechtigte“ handelt, sondern prüft nach der Feststellung, dass das Verschleißblech sich auf ein wesentliches Element der Erfindung bezieht, ob „es der Klägerin aufgrund des Grundsatzes der Erschöpfung […] verwehrt [ist], sich gegen den Einsatz der angegriffenen Verschleißbleche in Bremsen zu wenden, die mit Zustimmung der Klägerin in den Verkehr gebracht worden sind“.

[5] In den Worten des BGH „ist für die Abgrenzung zwischen bestimmungsgemäßem Gebrauch und Neuherstellung grundsätzlich in erster Linie maßgeblich, ob die ergriffenen Maßnahmen die Identität des bereits in Verkehr gebrachten konkreten Exemplars eines patentgemäßen Erzeugnisses wahren oder der Schaffung eines neuen Exemplars des patentgemäßen Erzeugnisses gleichkommen. Zur Beurteilung dieser Frage bedarf es einer die Eigenart des patentgeschützten Erzeugnisses berücksichtigenden Abwägung der schutzwürdigen Interessen des Patentinhabers an der wirtschaftlichen Verwertung der Erfindung einerseits und des Abnehmers am ungehinderten Gebrauch des in den Verkehr gebrachten konkreten erfindungsgemäßen Erzeugnisses andererseits. […] Soweit eine Verkehrsauffassung festgestellt werden kann und die in Rede stehende Maßnahme danach als Neuherstellung anzusehen ist, kommt dem in der Regel ausschlaggebende Bedeutung zu“.

[6] Hierzu führt der BGH aus: „Die technische Wirkung der angegriffenen Verschleißteile besteht allein darin, dass sie verschleißen und damit einem Verschleiß des fest angeschweißten Bremsträgers entgegenwirken. Diese Wirkung reicht nicht aus, um eine Neuherstellung zu bejahen. Durch den Austausch eines bestimmungsgemäß als Verschleißteil ausgebildeten und auf diese Funktion beschränkten Bauteils wird dem davon betroffenen Erzeugnis keine technische Funktion hinzugefügt. Vielmehr werden lediglich erneut die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Erzeugnis die angestrebte lange Lebensdauer erreichen kann. Die Erhaltung der angestrebten Lebensdauer gehört aber zu denjenigen Handlungen, zu denen ein rechtmäßiger Erwerber und dessen Nachfolger grundsätzlich befugt sind. […] Im Streitfall ist eine Neuherstellung danach zu verneinen. Die technische Wirkung der angegriffenen Verschleißbleche besteht allein darin, dass sie verschleißen“.

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