News: Verwaltungsprozessrecht – Die Voraussetzungen des Fortsetzungsfeststellungsinteresses
verfasst von Ali Tahir Sen
Hat sich ein Verwaltungsakt nach oder vor (h.M.) Klageerhebung erledigt, kann nach § 113 I 4 VwGO (analog) die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts festgestellt werden, wenn der Kläger ein „berechtigtes Interesse an dieser Feststellung“ hat. Während nach dem 6. Senat des BVerwG ein „qualifizierter Grundrechtseingriff“ zu fordern war, entnahm der 6. Senat der Rechtsprechung des 8. Senats die Auffassung, dass dieses Interesse immer besteht, wenn die angegriffene Maßnahme sich so kurzfristig erledigt, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnte und fragte beim 8. Senat an, ob dieser an seiner bisherigen Auffassung festhält. Der 8. Senat sieht dahingegen mit Beschl. v. 29.01.2024 keine Abweichung von der Rechtsprechung des 6. Senats, da die vom 6. Senat in Bezug genommene Entscheidung „nicht abstrakt die Voraussetzungen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses [formuliert], sondern […] sich […] auf eine knappe Subsumtionserwägung“ beschränkt.
BVerwG, Beschl. v. 29.11.2023 – 6 C 2/22, Beschl. v. 29.01.2024 – 8 AV 1.24; Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22
Überblick und Einordnung
Der Fortsetzungsfeststellungsklage kommt vor allem im Polizei- und Sicherheitsrecht eine hohe Bedeutung zu und ermöglicht die gerichtliche Überprüfung und den Schutz von Rechten gegenüber hoheitlichen Maßnahmen – auch wenn sich diese bereits erledigt haben.
Nach § 113 I 4 VwGO steht die Fortsetzungsfeststellungsklage unter dem Vorbehalt eines berechtigten Interesses an der Feststellung. Dieses kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein. Zu den anerkannten Gruppen gehören insbesondere die Wiederholungsgefahr, das Rehabilitationsinteresses sowie die Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses. Unter welchen Voraussetzungen das Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei der Verletzung von Grundrechten besteht, ist bislang nicht höchstrichterlich geklärt und wird von den Senaten des BVerwG unterschiedlich gehandhabt.
Während nach dem 6. Senat des BVerwG ein „qualifizierter Grundrechtseingriff“ zu fordern war, entnahm der 6. Senat der Rechtsprechung des 8. Senats[1] die Auffassung, dass dieses Interesse immer besteht, wenn die angegriffene Maßnahme sich so kurzfristig erledigt, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnte und fragte beim 8. Senat mit Beschluss vom 29.11.2023 an, ob dieser an seiner bisherigen Auffassung festhält.
Sachverhalt
K wohnhaft in S, erhielt am 17.04.2019 einen Bescheid des Polizeipräsidiums D, in welchem für die Zeit von 10:00 Uhr bis 20:00 Uhr am 27.04.2019 anlässlich der an diesem Tag angesetzten Begegnung zweier Fußballvereine ein Betretungs- und Aufenthaltsverbot für die Innenstadt der benachbarten Stadt D angeordnet wurde. Zur Begründung hatte das Polizeipräsidium u.a. ausgeführt, K sei als „Capo“ der gewaltbereiten Fanszene zuzurechnen. Aufgrund seines im Zusammenhang mit Fußballgroßveranstaltungen bisher gezeigten Verhaltens sei damit zu rechnen, dass er bewusst und geplant im Rahmen der genannten Begegnung Straftaten begehen bzw. zu ihrer Begehung beitragen werde.
K begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Betretungs- und Aufenthaltsverbots und führt aus, dass er seine Position als „Capo“ mit der Geburt seines Kindes im November 2018 zurückgezogen habe und nicht mehr in der Szene aktiv sei. Ergänzend führt das Polizeipräsidium aus, mit Blick auf die Wohlverhaltensperiode des K werde es allein aufgrund vergangener Vorfälle keine weiteren vergleichbaren Maßnahmen ergreifen.
Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht wiesen die Klage bzw. Berufung des K als unzulässig ab. Es fehle am Fortsetzungsfeststellungsinteresse, da weder Wiederholungsgefahr noch mangels Außenwirkung des ausschließlich an den K adressierten Bescheids ein rechtlich erhebliches Rehabilitationsinteresse bestehe und nur ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) vorliege, die nicht als so gewichtig anzusehen sein, dass Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu begründen. Mit der vom Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision macht K geltend, auf die Intensität des Eingriffs könne es für die Frage nach dem berechtigten Interesse i.S.d. § 113 I 4 VwGO nicht ankommen.
In seinem Beschluss geht der 6. Senat näher auf die Auslegung des Verwaltungsprozessrechts unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher und europarechtlicher Vorgaben und praktischen Erwägungen ein.
Die Auslegung des § 113 I 4 VwGO
Aus dem Wortlaut des § 113 I 4 VwGO ergibt sich nicht direkt, wie der Begriff „berechtigte Interesse“ auszulegen ist. Möglich erscheint, dass jedes rechtliche Interesse bzw. die Verletzung eines Rechts ein berechtigtes Interesse darstellt. Da aber jeder belastende Verwaltungsakt zumindest in Art. 2 I GG eingreift, würde bei einer solchen Auslegung des berechtigten Interesses das Fortsetzungsfeststellungsinteresse immer vorliegen und wäre entgegen dem Wortlaut keine ergänzende Voraussetzung.
In der systematischen Auslegung sind die Parallelen zu § 42 II VwGO zu berücksichtigen, wonach die Anfechtungsklage oder Verpflichtungsklage nach § 42 I VwGO nur zulässig ist, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Hieraus könnte geschlussfolgert werden, dass Verwaltungsgerichte nur ausnahmsweise in Anspruch genommen würden. Dies sieht der 6. Senat so und stellt fest:
Die bei einem Verzicht auf die Voraussetzung eines qualifizierten Grundrechtseingriffs eintretende Folge, dass im Bereich polizeilicher oder sonstiger Maßnahmen, die sich typischerweise kurzfristig erledigen, regelmäßig bereits die Geltendmachung eines einfachen Klärungsinteresses als Sachurteilsvoraus-setzung ausreicht, entspräche auch nicht der in § 42 Abs. 2 und § 113 VwGO zum Ausdruck kommenden Ausrichtung des deutschen Verwaltungsprozesses auf den Individualrechtsschutz, der grundsätzlich nicht der objektiven Verwaltungskontrolle, sondern der Durchsetzung materieller subjektiv-öffentlicher Rechte dient.
BVerwG, Beschl. v. 29.11.2023 – 6 C 2/22 Rn. 10.
Im Rahmen der teleologischen Auslegung sind insbesondere die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen. Zunächst ist nach Art. 19 IV 1 GG für jeden, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen und nach der Rechtsprechung des BVerfG enthält Art. 19 IV 1 GG zudem das Grundrecht auf wirksamen und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz. Eine restriktivere Auslegung des § 113 I 4 VwGO, die eine qualifizierte Grundrechtsverletzung würde dies einschränken – wenn auch nur in Fällen, in denen „nur“ ein Verstoß gegen Art. 2 I GG vorliegt. Hiergegen stellt der 6. Senat fest:
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert den Rechtsweg nicht nur bei aktuell anhaltenden, sondern grundsätzlich auch bei Rechtsverletzungen, die in der Vergangenheit erfolgt sind, allerdings unter dem Vorbehalt eines darauf bezogenen Rechtsschutzbedürfnisses. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, wenn die Fachgerichte ein Rechtsschutzinteresse nur so lange als gegeben ansehen, wie ein gerichtliches Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen
(BVerfG, Beschlüsse vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90, 728/92, 802/95, 1065/95 – BVerfGE 96, 27 <39 f.> und vom 3. März 2004 – 1 BvR 461/03 – BVerfGE 110, 77 <85 f.> m. w. N.).
Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gebietet darüber hinaus, die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung in Fällen gewichtiger, allerdings in tatsächlicher Hinsicht überholter Grundrechtseingriffe zu eröffnen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann
(BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 – 1 BvR 461/03 – BVerfGE 110, 77 <85 f.> m. w. N.).
Hingegen gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG nicht, dass die Gerichte generell auch dann noch weiter in Anspruch genommen werden können, um Auskunft über die Rechtslage zu erhalten, wenn damit aktuell nichts mehr bewirkt werden kann.
BVerwG, Beschl. v. 29.11.2023 – 6 C 2/22 Rn. 14.
Entsprechend folgert der 6. Senat, dass Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) nur ausnahmsweise das Fortsetzungsfeststellungsinteresse begründen können. Da die Frage, ob neben der typischerweise kurzfristigen Erledigung ein qualifizierter Grundrechtseingriff erforderlich ist, im vorliegenden Fall entscheidungserheblich ist, stellt der 6. Senat auf Grundlage von § 11 III 1, 3 VwGO die Anfrage.
Eine Abweichung der Rechtsprechung sieht der 8. Senat mit Beschl. v. 29.01.2024 durch das Erfordernis eines qualifizierten Grundrechtseingriffs nicht, da die vom 6. Senat in Bezug genommene Entscheidung „nicht abstrakt die Voraussetzungen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses [formuliert], sondern […] sich […] auf eine knappe Subsumtionserwägung“ beschränkt.
Im Ergebnis hat die Revision des K keinen Erfolg.
Nachweis
[1] Vgl. BVerwG, Urt. v. 27.01.2021 – 8 C 3.20 = BVerwGE 171, 242 Rn. 11.