
Strafrecht – Die Anstiftung eines strafunmündigen Kindes und die Strafbarkeit des Veranlassens eines Kindes zu einer Tat
verfasst von Ali Tahir Sen
Das Veranlassen eines nach § 19 StGB schuldunfähigen Kindes ist nur dann als mittelbare Täterschaft anzusehen, wenn dem Veranlassenden die vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft zukommt, er das Geschehen also in tatsächlicher Hinsicht steuernd in den Händen hält. Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall durch wertende Betrachtung des Gesamtgeschehens, insbesondere der sittlichen und geistigen Entwicklung des Kindes, das Unrecht der Tat einzusehen und entsprechend dieser Einsicht zu handeln, zu beurteilen.
BGH, Beschl. v. 13.09.2023 – 5 StR 200/23
M, die Schwägerin des T, floh aus Angst vor einem weiteren sexuellen Übergriff des T Anfang April 2018 mit ihren Kindern in ein Frauenhaus. Wenige Tage später besuchte der elfjährige K für einen im Voraus festgelegten Zeitraum von wenigen Wochen den V, seinen Vater und den Bruder des T. Ende April 2018 holte T den K ab und fuhr mit ihm in die Innenstadt. Angesichts der bevorstehenden Rückkehr des K in das Frauenhaus der M forderte T den K auf, seine Mutter zu töten. K soll am Abend, wenn M schläft, ein scharfes Messer aus der Küche holen und sie erstechen, weil M „schlechte Sachen“ gemacht hat. Wie und wann er vorgeht, sei die Entscheidung des K. T zeigt K ein Video, in dem ein Mann eine andere Person ersticht und verspricht ihm Süßigkeiten, die Rückgabe von weggenommenen Spielsachen und den Kauf eines Motorrads. Weil K so klein sei, würde er nicht bestraft werden, T würde aber eine große Strafe bekommen und ins Gefängnis kommen, wenn er es mache. Aus Angst, die M nicht mehr sehen zu können, willigt K zum Schein ein und wird von T wieder zu V gebracht. Sobald K wieder bei M ist, offenbart er ihr das Ansinnen des T.
Überblick und Einordnung
Auf den ersten Blick erscheint die Strafbarkeit des T eindeutig und seine Handlung als versuchte Anstiftung einzuordnen. Nach § 26 StGB wird derjenige, der einen anderen zu dessen vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat bestimmt hat, gleich dem Täter bestraft. Die Besonderheit dieses Falls ist jedoch, dass der „Täter“, der zur Tat bestimmt werden sollte, vorliegend mit elf Jahren nach § 19 StGB schuldunfähig ist – ein Strafbarkeitsmangel, der eine Strafbarkeit des T in mittelbarer Täterschaft begründen könnte.
Die Frage, ob das Veranlassen einer vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat eines Strafunmündigen nur als mittelbare Täterschaft anzusehen ist oder auch als „bloße“ Anstiftung zu bewerten sein kann, war bisher nicht höchstrichterlich entschieden – zumindest nicht seit 1927 durch das Reichsgericht. Und auch in der Literatur herrschte keine eindeutige Auffassung: Während einer Ansicht nach der „Hintermann“ bzw. Veranlassende ausschließlich als mittelbarer Täter zu bestrafen sei (sofern die Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft vorliegen), ist nach der Gegenansicht zu differenzieren, ob im Einzelfall das Kind ohne Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit handelte. Während das Landgericht Kiel den T wegen (unter anderem) versuchten Mordes in mittelbarer Täterschaft verurteilte, schloss sich der BGH der letztgenannten Ansicht an und änderte den Schuldspruch dahin, dass T der versuchten Anstiftung zum Mord schuldig ist.
Lösung nach dem BGH
Der BGH geht in drei Schritten vor, beginnt mit dem Tatentschluss des T zum täterschaftlichen Handeln, fährt fort mit dem unmittelbaren Ansetzen und schließt ab mit der versuchten Anstiftungshandlung.
Zunächst stellt der BGH in Übereinstimmung mit seiner stRspr. fest, dass als mittelbarer Täter handelt, wer die vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft innehat, das Geschehen also mit steuerndem Willen in den Händen hält.
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Abweichend von der auch als „Tatherrschaftslehre“ oder „materiell-objektive Theorie“ bezeichnete bei der mittelbaren Täterschaft vom BGH vertretenen Ansicht, werden in der Literatur auch andere Ansichten, insbesondere die strenge oder gemäßigte „subjektive Theorie“ vertreten.
Anschließend stellt der BGH fest, dass der BGH hierzu bisher keinen Rechtssatz aufgestellt hat und schildert die beiden in der Literatur vertretenen Ansichten. Der 5. Strafsenat des BGH schließt sich dann der Ansicht an, wonach eine mittelbare Täterschaft beim
Veranlassen der Tat eines Kindes nur dann als mittelbare Täterschaft anzusehen [ist], wenn dem Veranlassenden die vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft zukommt, er das Geschehen also in tatsächlicher Hinsicht steuernd in den Händen hält. Ob dies der Fall ist, richtet sich nicht nach starren Regeln, sondern ist im Einzelfall durch wertende Betrachtung des Gesamtgeschehens zu ermitteln. Von besonderer Bedeutung ist dabei, inwieweit der Strafunmündige nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der ihm angetragenen Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Ein dahingehendes Defizit begründet regelmäßig Steuerungsmacht und damit Tatherrschaft des Bestimmenden. Das Bestehen eines solchen Defizits mag zwar durch das kindliche Alter indiziert sein. Im Einzelfall ist allerdings, etwa aufgrund der Reife des Kindes, der Modalitäten seiner Beeinflussung oder der Offenkundigkeit des Tatunrechts, eine andere Bewertung möglich.
BGH, Beschl. v. 13.09.2023 – 5 StR 200/23 Rn. 13.
Und dies begründet der BGH anhand des Wortlauts, der Systematik und der Entstehungsgeschichte des § 19 StGB (letzteres hier ausgeklammert und ausführlich in Rn. 16 ff.).
Weder der Wortlaut noch die Systematik des § 19 StGB noch des § 26 StGB schließen nach dem BGH die Anstiftung Schuldunfähiger aus. Die Tat eines Schuldunfähigen verbleibt rechtswidrig und dem Wortlaut nach erfordert die Anstiftung zu dessen „vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat“. Nach Ansicht des BGH
entspricht [dies] auch der gesetzlichen Grundregel, wonach jeder Beteiligte nach seiner Schuld bestraft wird (§ 29 StGB).
BGH, Beschl. v. 13.09.2023 – 5 StR 200/23 Rn. 15.
Hieraus folgert der BGH, dass die
grundsätzliche Anwendbarkeit beider Beteiligungsformen […] entscheidend gegen eine rein normative Abgrenzung der Täterschaft von der Teilnahme [spricht], weil eine solche stets zur Annahme von Täterschaft führen würde und für die Teilnahme kein Anwendungsraum verbliebe.
BGH, Beschl. v. 13.09.2023 – 5 StR 200/23 Rn. 14.
Eine abweichende Ansicht findet nach dem BGH weder im Gesetz noch in den Gesetzesmaterialien eine Stütze.
Diese Ansicht, somit die ausschließliche Einordnung des veranlassenden „Hintermanns“ als mittelbare Täterschaft, wird zum Teil daraus geschlussfolgert, dass eine mittelbare Täterschaft immer dann vorliege, wenn die Strafbarkeit des unmittelbar Handelnden ausgeschlossen ist, der „Hintermann“ dies kennt und ausnutzt. Aufgrund der gesetzlich angeordneten Straflosigkeit nach § 19 StGB wird die ausschließliche Strafbarkeit des „Hintermanns“ als mittelbarer Täter geschlussfolgert. Dieses Ergebnis wird auch mit einer dem § 19 StGB entnommenen Wertung begründet. Der Gesetzgeber habe sich für die absolute Schuldunfähigkeit entschieden, sodass die Verantwortung ausschließlich den „Hintermann“ treffe. Es würde dieser Wertung widersprechen, wenn im Einzelfall dennoch darauf abgestellt werden würde, ob das Kind im konkreten Fall in der Lage war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
Dem hält der BGH zunächst entgegen, dass die unwiderlegliche Vermutung der Schuldunfähigkeit des § 19 StGB auf die Deliktsstufe der Schuld anknüpft und somit eine Beteiligung an der Tat des Kindes nicht ausschließt. Etwas anderes folgt nach dem BGH auch nicht aus dem Normzweck:
Der Normzweck – das Festlegen einer pauschalen Grenze für die Strafmündigkeit – gebietet es ebenfalls nicht, dem § 19 StGB Auswirkungen auf die Strafbarkeit eines Hintermanns zuzuerkennen. Aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber bei der Regelung der Strafmündigkeit mögliche Auswirkungen auf die Strafbarkeit von Beteiligten überhaupt in den Blick genommen hat […]. Das Schweigen der Gesetzesmaterialien zu dieser Frage legt vielmehr nahe, dass es insoweit bei den allgemeinen Regeln bleiben sollte.
BGH, Beschl. v. 13.09.2023 – 5 StR 200/23 Rn. 21.
Auch aus der Vermutung der Schuldunfähigkeit des Kindes folgt nach dem BGH nichts anderes, denn dies
zwingt den Rechtsanwender bei Kindern mithin – anders als bei Jugendlichen gemäß § 3 Satz 1 JGG – ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse der Reife und der Kompetenzentwicklung zu einer bestimmten rechtlichen Bewertung. Sie trifft damit aber keine Aussage über die tatsächlichen Verhältnisse. Da für die Frage der Steuerungsmacht des Tatveranlassers aber ausschließlich die tatsächlichen Verhältnisse Relevanz haben, kommt § 19 StGB insoweit kein Bedeutungsgehalt zu.
BGH, Beschl. v. 13.09.2023 – 5 StR 200/23 Rn. 22.
Für den konkreten Fall schlussfolgert der BGH, dass dem T keine Tatherrschaft zukommt, weil T nicht an der Einsicht des K, das Unrecht der Tat zu erkennen, zweifelte, insbesondere nicht versuchte, dieses zu verschleiern oder sich altersbedingte Reifedefizite zunutze zu machen. Im Gegenteil erklärte er K, dass T im Gegensatz zu K für die Tat bestraft werden würde. Nach dem BGH fehlt es im konkreten Fall an einer steuernden Einflussnahme des T, da dem K die Wahl des Tatzeitpunkts und die konkrete Ausgestaltung der Tat zukommt, worauf T keinen Einfluss ausüben kann. Auch das unmittelbare Ansetzen verneint der BGH, da das Einwirken des T aufgrund der Verzögerung und Ungewissheit der Ausführung lediglich als Vorbereitungshandlung einzustufen ist. T hat sich folglich nicht des versuchten Mordes in mittelbarer Täterschaft, sondern der versuchten Anstiftung zum Mord schuldig gemacht.