News: BGB AT & Mietrecht – Anfechtung, Rücktritt, Kündigung und Minderung bei grob fahrlässiger Unkenntnis von Mietmängeln
verfasst von Ali Tahir Sen
Ohne jegliche Nachfragen oder anderweitige Interessenbekundungen des Mieters an dem Zustand der Mietsache muss der Vermieter nicht ungefragt hierüber Auskunft erteilen, sodass eine Täuschung durch Unterlassen über den tatsächlichen Zustand der Mietsache nicht gegeben ist. Unterlässt ein Mieter vor Anmietung einer Wohnung deren Besichtigung, obwohl hierzu Gelegenheit bestanden hätte, so fällt dies grundsätzlich in den Risikobereich des Mieters.
Es ist zwangsläufig, dass Lichtbilder in einem Inserat die Wohnung in einem gepflegteren als dem tatsächlichen Zustand zeigen und offensichtlich, dass gerade keine Details hinsichtlich des konkreten Zustands der einzelnen Einrichtungsgegenstände abgebildet werden. Hierin liegt keine aktive Täuschungshandlung über den Zustand der Wohnung.
Wird die Wohnung vor dem Unterzeichnen des Mietvertrags nicht besichtigt, ist dem Mieter im Hinblick auf geltend gemachte Mängel grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne des § 536b BGB zu attestieren, sofern diese im Rahmen einer Besichtigung aufgefallen wären bzw. leicht ersichtlich wären.
M und V schlossen am 24.07.2019 einen Mietvertrag über eine möblierte Eigentumswohnung der V mit einem Mietbeginn am 01.09.2019 und einem Mietzins in Höhe von 900,00 € monatlich sowie eine Kaution in Höhe von 1.500,00 €. M und V verzichteten wechselseitig für die Dauer von einem Jahr auf das Recht zur ordentlichen Kündigung.
Am 10.09.2019 erklärte M den Rücktritt vom Mietvertrag, hilfsweise die sofortige Kündigung und die ordentliche Kündigung sowie die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung. Dies begründete sie mit dem Zustand der Wohnung und des Mobiliars.
V klagt vor dem AG Lübeck auf Zahlung der (nun ausstehenden) Mietschulden zzgl. Zinsen. M erhebt Widerklage auf Rückzahlung des bereits geleisteten Mietzinses und der Mietkaution. Dieser gibt das AG Lübeck größtenteils statt (Urt. v. 10.02.2021 – 24 C 1764/20).
In ihrer Berufung vor dem LG Lübeck rügt V die Annahme des AG einer arglistigen Täuschung vonseiten der V.
Im Rahmen seines Urteils vom 07.07.2022 (14 S 23/21) widmet sich das LG Lübeck zunächst einem Anspruch der V gegenüber dem M aus § 535 II BGB auf Zahlung der ausstehenden Mietzinszahlungen. Ein Anspruch auf Zahlung des Mietzinses nach § 535 II BGB kann nach folgendem Schema geprüft werden:
- Anspruch entstanden
- Anspruch nicht erloschen
- Anspruch durchsetzbar
Kurz und knapp stellt das LG Lübeck den Abschluss eines wirksamen Mietvertrags über die streitgegenständliche Wohnung und die Fälligkeit eines monatlichen Mietzinses in Höhe von 900,00 € bis zum dritten Werktag eines Monats im Voraus fest.
Anschließend beschäftigt es sich mit der im Rahmen der Revision geltend gemachten Annahme der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 I Alt. 1 BGB auseinander, die nach folgendem Schema geprüft werden kann:
- Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 I Alt. 1 BGB
- Zulässigkeit der Anfechtung
- Vorrangige gesetzliche Regelungen (z.B. §§ 434 ff.)
- Anfechtung eines bereits nichtigen Geschäfts
- Anfechtungsgrund (Arglistige Täuschung)
- Täuschung durch Unterlassen
- Täuschung durch aktive Täuschungshandlung
- Arglist
- Kausalität zwischen Täuschung, Irrtum und Abgabe der Willenserklärung
- Anfechtungserklärung nach § 143 BGB
- Anfechtungsfrist nach § 124 BGB
- Zulässigkeit der Anfechtung
Zunächst geht das LG Lübeck auf eine Täuschung durch Unterlassen der Aufklärung über den tatsächlichen Zustand der Wohnung ein:
LG Lübeck, Urt. v. 07.07.2022 – 14 S 23/21 Rn. 23.
Jedoch hatte M – trotz zwei Treffen vor Ort – keine Wohnungsbesichtigung durchgeführt. Daher stellt das LG Lübeck fest:
[…] Unterlässt ein Mieter vor Anmietung einer Wohnung deren Besichtigung, obwohl hierzu Gelegenheit bestanden hätte, so fällt dies grundsätzlich in den Risikobereich des Mieters. […]
LG Lübeck, Urt. v. 07.07.2022 – 14 S 23/21 Rn. 23.
Im Ergebnis verneint das LG Lübeck daher eine Täuschung durch Unterlassen und fährt fort mit einer Täuschung durch eine aktive Täuschungshandlung, wofür die Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums durch Vorspiegelung falscher oder durch Unterdrückung wahrer Tatsachen erforderlich ist (BeckOK BGB/Wendtland, 61. Ed. 1.2.2022, § 123 Rn. 7):
[…] Bereits der Gesetzeswortlaut des § 123 BGB fordert dabei, dass der Vertragspartner hierdurch zur Abgabe einer Willenserklärung bestimmt worden ist. Das Inserat mit den streitgegenständlichen Lichtbildern […] erfüllt die Anforderungen an eine aktive Täuschungshandlung nicht. Das Inserat zeigt die Wohnung im Wesentlichen den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechend. Dass die Wohnung in einem gepflegteren als dem tatsächlichen Zustand erscheint, folgt schon zwangsläufig aus der Art der Aufnahmen. Es ist für jedermann offensichtlich, dass gerade keine Details hinsichtlich des konkreten Zustands der einzelnen Einrichtungsgegenstände abgebildet werden. Es wird durch das Inserat noch nicht einmal der Versuch einer unrichtigen Abbildung des Zustands unternommen, indem zum Beispiel nur Nahaufnahmen von besonders gepflegten Einrichtungsgegenständen gezeigt, Abbildungen von abgewohnten Bereichen jedoch nicht wiedergegeben werden. Das Inserat dient für jedermann ersichtlich nur dazu, einen ersten Eindruck von der Wohnung und ihrer Aufteilung zu geben. Eine aktive Täuschung im Sinne des § 123 BGB liegt auch nicht darin, dass die Klägerin die Couch mit den beschädigten Stellen durch Kissen und Decken dekoriert hatte. Wie bereits ausgeführt, setzt § 123 BGB voraus, dass die Beklagte durch eine bestimmte Handlung nicht nur getäuscht, sondern auch zu der Abgabe einer Willenserklärung bestimmt worden ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Beklagte hatte zweimal die Gelegenheit, die Wohnung genauer zu besichtigen, bevor sie den Mietvertrag unterschrieb. Eine gründlichere Besichtigung hat sie aber vor Unterzeichnung nicht vorgenommen. Dies zeigt, dass sie dem konkreten Zustand der Wohnung jedenfalls in diesem Zeitpunkt keine besondere Bedeutung beimaß. Derjenige, dem etwas egal ist, kann hierüber aber auch nicht getäuscht werden. Auch im Hinblick auf die übrigen gerügten Mängel, wie dreckige Steckdosen, abgewohntes Mobiliar etc. liegt keine Täuschungshandlung vor. Diese Dinge waren frei zugänglich und jederzeit ersichtlich, so dass sie bei einer Wohnungsbesichtigung, wie sie vor Anmietung einer Wohnung üblich ist, leicht hätten erkannt werden können. Auch insoweit gilt, dass jemand, der kein Interesse an etwas zeigt, hierüber nicht getäuscht werden kann.
LG Lübeck, Urt. v. 07.07.2022 – 14 S 23/21 Rn. 24.
Dementsprechend verneint das LG Lübeck eine Täuschung durch Unterlassung und durch aktive Handlung der V und im Ergebnis die rückwirkende Nichtigkeit des Mietvertrags nach § 123 I Alt. 1 BGB.
Das LG Lübeck spricht kurz den Rücktritt nach §§ 323, 324, 326 V BGB an. Ein vertraglicher Rücktritt wurde von M und V nicht vereinbart, sodass nur ein gesetzlicher Rücktritt in Betracht kommt – ein solcher nach §§ 323, 324, 326 V BGB besteht jedoch nur vor der Überlassung der Mietsache und wird dann durch das Kündigungsrecht verdrängt. Aufgrund der „Schlüsselübergabe“ besteht somit kein gesetzliches Rücktrittsrecht.
Die fristlose Kündigung nach § 543 BGB lehnt das LG Lübeck sowohl nach § 543 II BGB als auch § 543 I BGB aufgrund des Vorrangs der Mängelrechte ab. Sie begründen keine fristlose Kündigung.
Jedoch stellt das LG Lübeck eine ordentliche Kündigung nach § 542 BGB vom 10.09.2019 zum vertraglich vereinbarten frühsten Kündigungszeitpunkt (Ausschluss der Kündigung im ersten Vertragsjahr), dem 31.08.2020 fest. Daher sind „nur“ nicht-beglichene Mietforderung vom 01.09.2019 bis zum 31.08.2020 begründet.
Anschließend widmet sich das LG Lübeck einer Minderung wegen Mängel der Mietsache nach § 536 BGB, die zwar von M nicht ausdrücklich geltend gemacht wurde, aber kraft Gesetz eintritt.
Bevor sich das LG mit der Frage auseinandersetzt, ob ein Mietmangel vorliegt, geht es auf § 536b BGB ein. Nach § 536b BGB stehen dem Mieter die Rechte aus den §§ 536 und 536b BGB nicht zu, wenn er bei Vertragsschluss den Mangel kennt – zumindest, sofern der Mieter seine Rechte bei der Annahme nicht vorbehält. Hierzu führt das LG Lübeck aus:
Sofern die Beklagte vorträgt, sie habe am Tag der Übergabe der Wohnung, mithin am 26.08.2020 [sic! zuvor wird die Übergabe auf den 26.08.2019 datiert], mehrere Mängel gerügt und die Abnahme der Wohnung in diesem Zustand verweigert, kommt es darauf nicht entscheidungserheblich an. Nach § 536b BGB ist maßgeblicher Zeitpunkt allein der Zeitpunkt des Vertragsschlusses, das heißt hier der 24.07.2019. Da die Beklagte die Wohnung vor Unterzeichnung des Mietvertrags nicht besichtigt hat, ist ihr im Hinblick auf die nun von ihr geltend gemachten Mängel grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne des § 536b BGB zu attestieren. Grobe Fahrlässigkeit liegt nämlich vor, wenn dasjenige unbeachtet gelassen wird, was jedem hätte einleuchten müssen oder bei einer Besichtigung ohne Weiteres auffällt (Weidenkaff in Grüneberg, BGB, 81. Auflage, § 536b, Rn 6). Wie bereits ausgeführt, hätte die Beklagte die Wohnung besichtigten können. Im Rahmen einer solchen wären ihr die nun gerügten Mängel auch aufgefallen, denn diese waren allesamt leicht ersichtlich. […]
LG Lübeck, Urt. v. 07.07.2022 – 14 S 23/21 Rn. 30.
Anders sieht dies das LG Lübeck nur für die in der möblierten Wohnung enthaltene Couch, dessen Mängel unstreitig mit Decken und Kissen bedeckt waren. Diesbezüglich liegt keine grob fahrlässige Unkenntnis vor. Dennoch verneint das LG Lübeck eine Minderung, weil
[…] jedenfalls eine Minderung der Miete wegen des Zustands der Couch daran [scheitert], dass der Minderungswert mit 0 € anzusetzen wäre. Die absolute Höhe der Mietminderung ist auf Grund der Umstände des Einzelfalls zu bemessen. Sie hängt insbesondere von der Schwere des Mangels sowie dem Grad und der Dauer der Minderung der Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch ab. Ist der Mangel so erheblich, dass der Mieter die Sache nicht oder nur im geringen Umfang nutzen kann, kommt eine völlige Mietzinsbefreiung für den Zeitraum in Betracht, in dem die Nutzbarkeit der Mietsache oder einzelner Räume praktisch aufgehoben ist (Schmidt-Futterer/Eisenschmid, 15. Aufl. 2021, BGB § 536 Rn. 389-390). Die Abgenutztheit der Couch stellt weder einen schwerwiegenden Mangel dar noch beeinträchtigt dieser die Nutzbarkeit der Couch in irgendeiner Art und Weise. Die Couch ist vollständig nutzbar. Im Hinblick auf das optische Erscheinungsbild ist zum einen festzustellen, dass sich dieses in das im Übrigen vorliegende abgenutzte Gesamterscheinungsbild der Wohnung einfügt. Zum anderen ist die Couch ausweislich des Inserats in einem mit Decken und Kissen dekorierten Zustand vermietet worden und war mit diesen auch ohne Einschränkungen nutzbar.
LG Lübeck, Urt. v. 07.07.2022 – 14 S 23/21 Rn. 30.
Im Ergebnis stellt das LG Lübeck daher fest, dass zunächst Mietschulden in Höhe von 10.800,00 € (12*900,00 €) angefallen sind, von welchen M bereits 900,00 € bezahlt hat. Insgesamt sind daher 9.900,00 € an Mietschulden offen, sowie Zinsen hierfür nach §§ 288 I, 286 II Nr. 1 BGB. Aufgrund der Beendung des Mietverhältnisses ist die Widerklage der M nicht vollkommen unbegründet – sie hat einen Anspruch auf Rückerstattung der Kaution (1.500,00 €) zzgl. Zinsen nach §§ 288 I, 286 III BGB.
verfasst von Ali Tahir Sen
Weiterführende Literaturhinweise:
Die arglistige Täuschung im BGB, Arnold, JuS 2013, 865 ff.
Grundfälle zum Mietrecht, Löhnig/Gietl, JuS 2011, 107 ff.; Die Beendigung des Mietverhältnisses, Beyer, ZJS 2009, 29 ff.; Die Beendigung des Wohnraummietverhältnisses, Bühler, JA 2021, 721 ff., 810 ff.
Praktische Fälle zur Anfechtung: Gsell/Fervers, ZJS 2019, 374 ff. (Original-Referendarexamensklausur); Bach, ZJS 2016, 714 ff. (Fortgeschrittenenklausur).
Praktische Fälle aus dem Mietrecht: Brinkmann, ZJS 2020, 195 ff. (Referendarexamensklausur); Becker, ZJS 2019, 269 ff. (Fortgeschrittenenklausur).
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