News: Strafrecht – Kein Einverständnis in Freiheitsberaubung bei Täuschung über Reiseziel
verfasst von Ali Tahir Sen
Der von § 239 StGB geschützte potenzielle Fortbewegungswille ist Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis, sodass eine Freiheitsberaubung vorliegt, wenn ein durch List oder Täuschung erschlichenes Einverständnis in eine nicht bewusste Freiheitsentziehung resultiert. Es handelt sich lediglich um ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung durch Verhinderung des zu erwartenden Widerstands des Betroffenen, führt jedoch nicht zu einem Ausschluss der Erfüllung des objektiven Tatbestands des § 239 I StGB.
Die Beklagten A, B, C allesamt Familienmitglieder der O und D, ein Freund des B und C beschlossen O zunächst nach Georgien und anschließend nach Tschetschenien zu bringen, um sie dort durch eine Zwangsheirat „aus der Schusslinie“ zu nehmen und sie zu einer „den tschetschenischen Traditionen entsprechenden Lebensführung“ zu bringen. Den Beklagten war jedoch bewusst, dass O diese Reise nicht freiwillig angehen würde. Aus diesem Grund spiegelten sie ihr vor, dass sie in Polen persönlich russische Pässe beantragen müssten. Tatsächlich fuhren Sie mit dem Auto zum Flughafen nach K und flogen anschließend nach Georgien.
Während der mehrstündigen Autofahrt saß O mittig im Hintersitz und wurde in kurzen Fahrtpausen beobachtet, sodass sie sich im näheren Umfeld des Fahrzeugs befand. Im Falle einer Flucht würden die Beklagten eingreifen. Ihnen war bewusst, dass O sich „jedenfalls“ während der Fahrt nicht entfernen konnte, obwohl O sich bei Kenntnis der wahren Pläne widersetzt und bei nächster Gelegenheit das Weite oder Hilfe Dritter gesucht hätte.
Am Flughafen in K wurde ebenfalls von den Beklagten begleitet. Diese sollten sicherstellen, dass sie nicht auf sich aufmerksam macht oder um Hilfe bitten kann, falls sie das Ziel der Reise erkennt. O merkte jedoch erst nach der Landung, dass sie sich nicht in Polen, sondern Georgien befand.
Vom LG Berlin wegen (unter anderem) Freiheitsberaubung zu Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr verurteilt, wenden sich die Angeklagten mit ihren jeweils auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Rechtsmitteln gegen ihre Verurteilungen.
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Dieser Sachverhalt (und die nachfolgende Besprechung) deckt nur einen Teilbereich des Tatgeschehens des besprochenen Urteils ab. Es folgen noch (schwere) Körperverletzungen, Verabredung zu einem Verbrechen einer schweren Freiheitsberaubung und weitere Delikte. Fokus dieser Folge soll jedoch (den Leitsätzen des Urteils entsprechend) dieser „Tatkomplex“ sein.
Die Prüfung einer Freiheitsberaubung nach § 239 I StGB kann nach folgendem Schema erfolgen:
- Tatbestandsmäßigkeit
- Objektive Tatbestand
- Tatopfer: Ein anderer Mensch
- Tathandlung & Erfolg: Eingriff in die Bewegungsfreiheit durch (1) Einsperren oder (2) auf sonstige Weise
- Subjektiver Tatbestand
- Objektive Tatbestand
- Rechtswidrigkeit & Schuld
- Qualifikation: § 239 III Nr. 1 StGB
- Erfolgsqualifikation: § 239 III Nr. 2 StGB
- Erfolgsqualifikation: § 239 IV StGB
Zunächst widmet sich der BGH (Urt. v. 08.06.2022 – 5 StR 406/21) der Frage, inwiefern § 239 StGB die potenzielle persönliche Bewegungsfreiheit schützt, da O – mangels Kenntnis über das Reiseziel – keinen aktuellen Fortbewegungswillen aufwies.
In Übereinstimmung mit seiner bisherigen Rechtsprechung und Teilen der Literatur stellt es fest, dass allein entscheiden ist
BGH, Urt. v. 08.06.2022 – 5 StR 406/21 Rn. 20.
Anschließend geht der BGH auf eine abweichende Literaturansicht ein, die – insbesondere aufgrund der Einführung der versuchten Freiheitsberaubung (§ 239 II StGB) durch das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom Januar 1998 (BGBl. I S. 164) – nur von einem Schutz der aktuellen Fortbewegungsfreiheit ausgeht. Begründet wird dies damit, dass es nicht (mehr) gerechtfertigt sei, den Vollendungszeitpunkt vorzuverlegen, sodass nach dieser Ansicht keine (vollendete) Freiheitsberaubung vorläge.
Dieser Ansicht folgt der BGH jedoch nicht und stellt fest:
Der Senat sieht keinen Anlass, von der bisherigen Auslegung des Tatbestands der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) durch den Bundesgerichtshof abzuweichen. […] Für die hierfür maßgebliche Bestimmung des geschützten Rechtsguts spricht der Wortlaut der Norm. Seiner (Bewegungs-)Freiheit ist objektiv betrachtet derjenige beraubt, der sich aufgrund des Verhaltens eines Dritten nicht wegbewegen kann, wenn er dies wollte. Eine als Zwang empfundene Willensbeugung wohnt dem Begriff der Freiheitsberaubung in objektiver Hinsicht nicht inne. […] Opfer einer Freiheitsberaubung kann danach nicht nur derjenige sein, der gegen seinen aktuellen Willen zu einem Verbleiben an einem Ort bestimmt wird […].
BGH, Urt. v. 08.06.2022 – 5 StR 406/21 Rn. 22 f.
Neben dem Wortlaut sprechen nach Ansicht des BGH auch systematische Erwägungen für den Schutz der potenziellen Bewegungsfreiheit. Dies gilt insbesondere in Abgrenzung zur Nötigung:
Mit dem hohen Gut der persönlichen Bewegungsfreiheit […] das durch die Einführung der Versuchsstrafbarkeit noch an Gewicht gewonnen hat […] , wäre es nicht in Einklang zu bringen, die Freiheitsberaubung als einen bloßen Spezialfall der milder sanktionierten Nötigung zu behandeln. Sie ist vielmehr ein eigenständiges Delikt mit eigenen Voraussetzungen, das den Einzelnen umfassend vor der Entziehung seiner Fortbewegungsfreiheit schützen soll […]. Die Straftat der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) wiegt nach dem in den jeweiligen Strafrahmen zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers schwerer als die Nötigung (§ 240 StGB) und steht im Strafgesetzbuch vor ihr. Mit der Einordnung als bloßer Spezialfall des § 240 StGB ließe sich dies kaum vereinbaren.
BGH, Urt. v. 08.06.2022 – 5 StR 406/21 Rn. 24.
Auch aufgrund der Einführung der versuchten Freiheitsberaubung sieht der BGH keinen Anlass für eine andere Auslegung. Nach Ansicht des BGH wäre „der umfassende strafrechtliche Schutz vor der Entziehung der Bewegungsfreiheit dadurch nicht gewährleistet“. Der BGH stellt zudem fest, dass auch für den Versuch der Freiheitsberaubung ein Anwendungsbereich verbleibt und zeigt dies an einem Beispiel:
[…] Lockt der Täter den Betroffenen in ein Zimmer, um ihn darin einzuschließen, macht er sich wegen eines (fehlgeschlagenen) Versuchs der Freiheitsentziehung strafbar, wenn ihm das Einschließen etwa mangels passenden Schlüssels oder wegen Gegenwehr des Geschädigten nicht gelingt. Zudem bleiben Fälle einer Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs denkbar.
BGH, Urt. v. 08.06.2022 – 5 StR 406/21 Rn. 25.
Klausurhinweis
Die Frage, ob der potenzielle Fortbewegungswille von § 239 StGB geschützt wird, ist ein Klassiker mit hoher Klausurrelevanz. Das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts hat diese Diskussion nochmals befeuert. Klausurtaktisch ist es jedoch zu empfehlen, der Ansicht des BGH mit den oben angeführten Argumenten zu folgen – sonst ist die Prüfung der versuchten Freiheitsberaubung erforderlich.
Anschließend widmet sich der BGH der Frage, ob ein tatbestandsausschließendes Einverständnis vorliegt und stellt zunächst fest, worauf im Bezug ein Einverständnis erforderlich ist und wie sich hierauf ein Einverständnis erlangt durch List oder Täuschung auswirkt.
[…] Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB ist der potentielle Fortbewegungswille. Nötig ist mithin, dass sich der Betroffene der Freiheitsentziehung und der Freiheitsentziehende über das Ausmaß und die Dauer der Freiheitsentziehung einig sind […]. Ein durch List oder Täuschung erschlichenes Einverständnis des Betroffenen in eine ihm nicht bewusste Freiheitsentziehung stellt sich somit lediglich als ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung durch Verhinderung des zu erwartenden Widerstands des Betroffenen dar, das nicht zu einem Ausschluss des objektiven Tatbestands des § 239 Abs. 1 StGB führen kann […].
BGH, Urt. v. 08.06.2022 – 5 StR 406/21 Rn. 28.
Nachdem der BGH feststellt, dass kein tatbestandsausschließendes Einverständnis vorliegt, widmet er sich (schließlich) der Frage, ob O ihrer potentiellen Bewegungsfreiheit (durchgehend) im Sinne des § 239 I StGB beraubt war.
Dies bejaht der BGH in Übereinstimmung mit dem LG Berlin angesichts der Sitzposition der O zwischen den Angeklagten für die Autofahrt und aufgrund der durchgehenden Bewachung auch für die kurzen Pausen während der Fahrt und am Flughafen. Unproblematisch liegt eine Freiheitsberaubung während dem Flug vor. Eine im Rahmen der Revision geltend gemachte Zäsur durch die Pausen und am Flughafen, verneint der BGH und stellt eine Freiheitsberaubung vom Antritt der Autofahrt bis zum Ende der Flugreise fest.
Bezüglich des subjektiven Tatbestands stellt der BGH fest:
Insbesondere wussten die Angeklagten […], dass die Geschädigte sich „jedenfalls“ bei der Autofahrt nicht entfernen konnte und sich nur aufgrund der Täuschung der Reise nicht widersetzte.
BGH, Urt. v. 08.06.2022 – 5 StR 406/21 Rn. 33.
Im Ergebnis werden die Revisionen gegen das Urteil verworfen.
Weiterführende Literaturhinweise:
Die Straftaten gegen die persönliche Freiheit, §§ 232 – 241a StGB: Schroeder, JuS 2009, 14 ff.
Die Straftaten gegen die persönliche Freiheit in der strafrechtlichen Examensklausur, Eidam, JuS 2010, 869 ff.
Praktische Fälle: Putzke, ZJS 2011, 522 ff. (Referendarexamensklausur), Singelnstein, ZJS 2012, 229 ff. (Referendarexamensklausur), Sebastian/H. Lorenz, ZJS 2017, 84 ff. (Anfängerhausarbeit).
verfasst von Ali Tahir Sen
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